Erkenntnis
nachher noch Zeit haben, mit ihr zu plaudern.“
Innerhalb weniger Minuten sind sie alleine. Niamhs Mutter setzt sich neben sie und legt den Arm um ihre Tochter.
„Kind, wie kommst du denn bloß auf die Idee, wir hätten dir den Zutritt zum Feenreich verwehrt? Wir haben doch all die Jahre gehofft, dass du endlich wieder zu uns kommst.“
Niamh schaut ihre Mutter an.
„Weil ich ungehorsam war. Weil ich die Regeln gebrochen habe und weil ich den Tod verhindert habe ...“
Niamhs Mutter erhebt sich und geht zu einem Tisch, dessen Oberfläche aus Kristall besteht.
„Ich verstehe. Komm mal her, mein Kind. Ich glaube, ich muss dir mal etwas erklären.“
Niamh geht langsam zu ihr.
„Aodnait, wie viele Feen kennst du, die in der Menschenwelt den Tod verkünden?“
Niamh überlegt. „Drei … nein vier.“
Ihre Mutter nickt.
„Und wie viele Banshees kennst du?“
Niamh öffnet den Mund, um zu antworten, und schließt ihn dann wieder. Ihre Augen werden groß.
Ihre Mutter lächelt.
„Ja, es gibt einen Unterschied zwischen dem, was man machen kann, und dem, was man wirklich macht. Weißt du, nicht jede Banshee ist wirklich als Todesbotin geeignet. Der Todesruf ist kein Spiel, sondern eine sehr ernste Sache. Man braucht eine Menge Verantwortungsgefühl, Weitsicht, Mitgefühl und trotzdem auch einen gewissen Abstand zu den eigenen Gefühlen um diese Aufgabe erfüllen zu können.“
Niamh hört ihrer Mutter gespannt zu. Ihr ist immer noch nicht klar, worauf diese eigentlich hinaus will.
„Wenn also eine junge Banshee ihren ersten Auftrag erhält, ist es eine Art Probe. Du musst wissen, nicht jeder Tod ist unausweichlich. Manchmal liegt es in der Macht der Banshee den Tod zu verhindern. Aber sie steht dann auch immer vor der Entscheidung, ob das wirklich sinnvoll ist.“
„Ich durfte also den Tod verhindern?“
Niamh klingt verwirrt und unsicher. Ihre Mutter lächelt warm.
„Ja, diese Entscheidung gehört zu deiner Verantwortung als Banshee. Schau mal genau her.“
Sie macht eine Handbewegung über der Kristallplatte des Tisches und schon erscheint darauf eine Landschaft mit Bergen, Tälern, Pflanzen und Flüssen. Sogar eine Wüste und das Meer sind zu sehen.
„Das, mein Kind, ist die Karte des Lebens. Die Flüsse und Bäche sind die Lebensströme der Menschen. Darin fließen ihre Seelen dahin.
Wenn du genau hinsiehst, erkennst du bei einigen dieser Flüsse und Bäche Hindernisse. Sie werden gestaut oder verschwinden plötzlich unter der Erde oder versickern, wie dieser hier in der Wüste. All diese Hindernisse symbolisieren die Punkte, an denen wir den Tod verkünden können.“ Sie zeigt auf einen kleinen Fluss.
„Was würdest du bei diesem Lebensfluss machen, Aodnait?“
Niamh schaut genau hin. Ein Baum ist über den Fluss gefallen und droht ihn zu stauen.
„Ich würde den Baum entfernen!“
Ihre Mutter nickt zustimmend und zeigt auf einen anderen Fluss. „Und bei diesem hier?“
Niamh betrachtet den Fluss eine ganze Weile.
„Ich weiß nicht ..., da sind so viele Hindernisse.“
„Genau hier beginnt die Verantwortung einer Banshee, Aodnait. Diese Hindernisse können Krankheiten bedeuten. Wenn die Banshee jetzt eines wegräumt, folgt kurz darauf das Nächste. Das bedeutet für den Menschen unter Umständen unsägliches Leiden. Eine Banshee muss auch entscheiden können, wann der Tod eine Erlösung ist.“
Niamh schaut ihrer Mutter in die Augen.
„Dann habe ich keinen Fehler gemacht. Aber warum konnte ich dann nicht zurück ins Feenreich?“
„Nein Kind, du hast keinen Fehler gemacht. Wann hast du denn das erste Mal versucht wieder herzukommen?“
„Das war, als ich merkte, dass mit Keelin etwas nicht stimmt. Ich wollte euch bitten, den Fluch von ihr zu nehmen.“
„Wer ist Keelin? Aodnait darf ich?“
Niamh schaut in die goldenen Augen ihrer Mutter und nickt. Gleich darauf spürt sie die Fingerkuppen ihrer Mutter auf ihrer Stirn.
Ein strahlendes Lächeln erhellt das Gesicht der Fee.
„Ich habe eine Enkeltochter und noch dazu eine ganz Besondere!“ Spontan umarmt sie ihre Tochter.
„Kind, auf Keelin liegt kein Fluch. Ich habe keine Ahnung, warum sie so ist, aber es liegt nicht an uns. Ich weiß jetzt aber, warum du das Tor nicht öffnen konntest. Deine Ängste haben dir den Zugang blockiert.“
In Niamh streiten sich die widersprüchlichsten Gefühle. Enttäuschung, weil sie immer noch nicht weiß, wie sie Keelin helfen soll und Erleichterung darüber, dass sie hier nach wie vor geliebt wird. Sie setzt sich
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