Erknntnisse eines etablierten Herrn
unlustig.
»Ich dachte, es interessiert Sie.«
»Jetzt rufen Sie aber erst wieder an, wenn sie da ist. Abgemacht?« Umsonst sein väterlicher Ton.
»Sie sind ja ganz schön scharf auf meine Mutter.«
»Wie immer Sie das nennen wollen...«, sagte er in gleichmäßig abfallender Tonfolge.
»Wie war’s denn im Altersheim?«
»Sehr interessant.«
»Das freut mich aber für Sie. Und was machen Sie heute?«
»Ich habe einen sehr anstrengenden Tag.«
»Wer redet denn von Tag, ich meine abends.«
»Da ist großer Empfang vom Werbeverband. Hier im Hotel..«
»Na, dann viel Spaß!« t
»Danke. Was soll denn das?« sagte er noch — aber da lag der Hörer schon auf der Gabel.
»Danke«, sagte der Portier, als ihm der Gast von vierhundertelf den Zimmerschlüssel mit dem Totschläger hinlegte und sich mit einem Danke vom Drehtürdreher hinausschaufeln ließ.
»Taxi?« fragte der äußere Türhüter. Lukas schüttelte den Kopf. »Danke.«
Früher wäre er gefahren, fuhr jeden nur möglichen Meter, jetzt wollte er lieber zu Fuß gehen. Stundenlang könnte er laufen durch diese Stadt. Einen Augenblick dachte er daran, nach dem Weg zu fragen, unterließ es aber. Er wird die Zeitung selber finden, weit konnte es nicht sein, das wußte er noch und bog ab, zu früh, wie sich herausstellte, weil das Eckhaus an der Straße neu war, durch seinen Über-Eck-Eingang aber dem alten eine Querstraße weiter zum Verwechseln ähnlich sah. Auch andere Orientierungshilfen fehlten. Hatte der alte Bürgermeister seinerzeit nichts Neues entstehen lassen, so ließ der neue offenbar nichts Altes stehen. Lukas kam sich großväterisch vor, mit seinem Anspruch auf komplett erhaltenes Stadtbild. Eine Stadt ist kein Museum, diese Stadt jedenfalls war keines. Aber was war sie jetzt eigentlich? Zwischen abgerissener Vergangenheit und entstehender Zukunft, eine Baustelle ohne Gegenwart, ein Warenlager, Park- und Rangierplatz.
Auch das gravitätische Gebäude der Zeitung fehlte. An seinem Platz stand ein Stahl- und Glaskasten. Eine Versicherung? Die Verwaltungszentrale eines Konzerns? Die Zeitung. Zwei Wächtürme aus Glas engten den Eingang, Käfige mit Sprechloch in der Scheibe, in denen Pförtner wie Kleintiere gehalten wurden. Der Mann, der ihn fragte, wohin er wolle, hatte das klassische Pförtnerleiden: er war amputiert.
Es gab eine Verzögerung, weil Lukas nur die Vornamen wußte. Die Wolfgänge hießen eben Wolfgänge und wären nur durch den Mangelgrad ihres Haarwuchses unterschieden worden: der Kahlere und der weniger Kahle. Er beschrieb beide; der Pförtner schaute, als fühle er sich dem Problem gewachsen, nannte drei Namen, die Lukas nichts sagten, schlug eine Liste auf und suchte die dazugehörigen Vornamen. Einer hieß Wolfgang.
»Zimmer fünfhundertsechzehn!«
Wegbeschreibung, Paternoster im alten Teil hinter der modernen Glasstahlfassade, Korridore, Treppen, Rohrpostanlage, Korridore, Treppen, junge und nicht mehr ganz junge Männer mit biblischer Haartracht; nicht mehr ganz junge, ältere und alte Männer mit sichtbaren Ohren; Frauen schwer bestimmbaren Alters, Mädchen mit Betonung und ohne, raus und rein, hin und her, Geschäftigkeit wie in jeder Branche, nichts von Zeitungsatmosphäre, Macht über Meinungen, oder doch? Schauten sie nicht anders, wacher, neugieriger? An der Tür des Zimmers fünfhundertsechzehn stand Lokalredaktion. Darunter mit Schreibmaschine zwei Namen. Lukas klopfte, trat ein, grüßte, erkannte ihn sofort, den hageren alten Mann, der da hinter dem Schreibtisch saß, hinter alten Zeitungsbänden und aufgeschlagenen Büchern: einer der Wolfgänge. Ob der kahlere oder der weniger kahle, würde sich herausstellen.
Umgekehrt dauerte es länger. Der kahlere oder weniger kahle Wolfgang sah ihn an, aus Augen, die nicht verrieten, ob er Lukas erkannte oder nicht. Endlich kam ein sprödes: »Ach du bist das! Setz dich doch.« Danach wieder Kontaktlosigkeit, zittriges Umblättern eines Zeitungsblatts. Erklärung:
»Ich recherchiere gerade für einen Artikel über unsere Stadt vor hundert Jahren. Das heißt, das mach ich jede Woche, die Leute lesen’s gern. Muß eine schöne Zeit gewesen sein.«
Lukas holte ihn in die Gegenwart zurück, erzählte von Hubert, von Kathi, von Daniela und von sich, soweit das für diesen Wolfgang interessant sein konnte. Er wurde lebhafter, dieser Wolfgang, erinnerte sich an Einzelheiten, stand auf in seiner vom Sitzen im Rücken hochgeschobenen, an den Seiten herunterhängenden
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