Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erknntnisse eines etablierten Herrn

Erknntnisse eines etablierten Herrn

Titel: Erknntnisse eines etablierten Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
Vom Netzwerk:
Tweedjacke und suchte etwas in einem Regal.
    »Weißt du überhaupt, daß es den Späten Schoppen schon vor hundertzwanzig Jahren gab? Er hieß damals Zum letzten Tropfen und war im Besitz der Wirtsleute Erwin und Anna Spechtmeier, blieb auch in der nächsten Generation im Familienbesitz. Erst 1911 wurde
    das Lokal an die Fürstenbrauerei verkauft, umgebaut und vom Pächter in Später Schoppen umbenannt, weil ihm Letzter Tropfen zu sehr nach Geschäftsschluß klang. Ganz interessant, was?«
    »Und heute heißt er Late drink «, sagte Lukas.
    »Du mußt Stadtchroniken lesen! Es gab immer dieselben Probleme. In den Gründerjahren zum Beispiel hatten wir einen fortschrittsbesessenen Stadtrat, dem manches schöne Bauwerk zum Opfer gefallen ist, wie das Kilianstor mit dem spitzen Turm.«
    Lukas nützte die Pause nach diesem zweiten historischen Bericht, um Wolfgang zu orten: er fragte ihn nach dem anderen Wolfgang, »Ich bin der Kahlere, wie ihr gesagt habt«, erwiderte der hagere Mann. »Aber das hat sich geändert. Jetzt ist er’s. Er hat sich diesen Vorsprung erärgert.« Der weniger kahle Kahlere schaute auf die Uhr. »Ich muß jetzt kochen gehen! Wenn du Zeit hast, kannst du mitkommen.«
    Ein bißchen fremd noch, aber doch recht gut bekannt, gingen sie. Erst auf der Straße sprach der weniger kahle Kahlere weiter. Er mußte der jüngere Wolfgang sein, rechnete sich Lukas aus.
    »Sie haben ihn schweinemäßig behandelt! Ausgerechnet diese Zeitung, die so fabelhaft sozial dahertönt, hat Wolfgang nach zwanzigjähriger Tätigkeit auf die Straße gesetzt. Im laufenden Monat gekündigt! Noch mit Ach und Krach drei Monate bezahlt, aber dann war Schluß.«
    »Das wundert mich«, sagte Lukas, »Deutschland soll an Sozialleistungen in Europa führend sein, habe ich beim Frühstück gelesen. In deiner Zeitung!«
    Da lachte der jüngere Wolfgang zum ersten Mal. »Ja, wenn du unsere Zeitung liest! Wenn du dabei bist, sieht das anders aus. Wolfgang war freier Mitarbeiter beim Feuilleton, hatte ein Fixum, aber nie einen Vertrag. Früher ging das. Dann hat der Besitzer gewechselt, und auf einmal wären seine Beiträge nicht mehr zeitgemäß. Eines Tages wären sie nicht mehr tragbar.«
    »Und du? Du warst doch auch beim Feuilleton.«
    »Ich hatte einen Vertrag. Zufälligerweise, kann ich nur sagen. Mich konnten sie nur abschieben in den Lokalteil. Da bin ich jetzt so eine Art Kilianstor, abgebaut, aber noch nicht ganz vergessen, habe meine Ruhe und meine Leser und erscheine regelmäßig an derselben Stelle.«
    Sie unterquerten die Betonschneise der Ringstraße.
    »Und was macht er jetzt?«
    »Wolfgang wär beinah noch was geworden! Er hat das Theaterstück geschrieben, das Hubert immer schreiben wollte, und hat sich’s, weil er mit der Miete in Rückstand war, von einem Bühnenverlag für ein paar Tausender abkaufen lassen. Es ging über einige Bühnen, aber er hat keinen Pfennig mehr gesehen. Jetzt wohnt er bei mir. So, da sind wir.«
    Auf der steilen Treppe des Altbaus verstummte er. Auch Lukas sah sich von seinen Lungen zur Einsilbigkeit genötigt. Nach fünf oder sechs Stockwerken endeten die Stufen auf einem kleinen Vorplatz mit zwei Türen, einer eisenbeschlagenen über stufenhoher Schwelle und einer Holztür mit gußeisernem Griff.
    »Gesund!«, rief Wolfgang und atmete wollüstig durch. »Mit Lift wären wir schon tot.«
    Die schäbige Tür, die er aufschloß, führte in keine Diele, sondern direkt ins Zimmer, in zwei Dachkammern, die infolge eines fast wandbreiten Mauerdurchbruchs wie ein großer Raum wirkten, nicht zuletzt durch eine jungmädchenhafte Blümchentapete. Jede Zimmerhälfte hatte eine schräge Wand mit einer Fenstergaube; daneben, in der äußeren Ecke, stand je eine Couch. In der Mitte, vor dem Rest der Trennwand, saß auf einem sich entflechtenden Korbsessel mit offenen Spiralen an allen vier Beinen der andere Wolfgang in eine Broschüre vertieft. ‘
    Die Einrichtung ähnelte auf den ersten Blick der bei Hubert: ein Potpourri von der Reichsgründung bis zur Währungsreform. Hinter der Tür befand sich ein Waschbecken mit fließendem Wasser, das fleißig tropfte, links daneben eine weiße Kommode, vollgestellt mit Toiletten- und Haushaltskram. Über einem an der Seite angeschraubten, mehrfingrigen Handtuchhalter verrieten Haushaltskaro und Flausch dieselbe Unterteilung.
    Der ältere Wolfgang nahm den Gast wahr und erkannte ihn sofort. Er war in der Tat kahler als der Kahlere, erhob sich etappenweise,

Weitere Kostenlose Bücher