Erlebnisse eines Erdenbummlers
Heidelberg. Mein Genosse hatte da alte Bekannte aufzusuchen und im Rausch des Wiedersehens vergaßen wir beide, daß wir eigentlich nach Kalw zu reisen die Absicht hatten, wo eine Armenarztstelle ausgeschrieben war. Da unser Geld schon nicht mehr recht bis an die württembergische Grenze reichen wollte, entschlossen wir uns, nach Rockenhausen im Alsenztale zu fahren, weil wir auf der Westfalenkneipe gehört hatten, daß alldort ein Arzt gestorben sei. Als wir in genanntem Orte ankamen, erfuhren wir von einem Schweinehändler, daß mit dem Tode des Ortsarztes eine Stelle frei geworden sei, auf der nicht einer, sondern zwanzig Ärzte ein Vermögen machen könnten so groß wie das der Rothschilds. Flottmann und ich waren beide dumm genug, um dem Aufschneider zu glauben, und vielleicht wären wir beide in dem Neste hängen geblieben, wenn der Corpsier nicht eine feinere Nase gehabt hätte als der Büchsier. Der Geruch des Dorfes gefiel dem feudalen Lehrerssohn von der Lüneburger Heide nicht. Auch sahen die windschiefen Holzhäuser der Straßen nicht so aus, als ob hinter ihren Kattunvorhängen die reichen Erbinnen zu träumen pflegten. Flottmann ließ mich also im ungeschmälerten Besitz der weitläufigen Gegend und ging nach Weinheim in die Nähe seiner vielgeliebten Westfalenkneipe. Sein dunkles Ahnen hatte ihn nicht betrogen. Er fand im »Pfälzer Hof« die ersehnte reiche Erbin in Gestalt einer Bremer Kaufmannstochter, ging rasch mit ihr zum Altare und fragte am nächsten Morgen, was die Welt koste. Da man ihm in dem kleinen Fabrikstädtchen für seine jetzige Lage zu wenig forderte, zog er bald darauf nach Wiesbaden, von da nach Berlin und dann wieder mehr südwärts nach Bad Ems an der Lahn. Wäre er nicht alldorten rechtzeitig noch gestorben, ich bin sicher, der Lord hätte von dem Bremer Kaufmannsgelde keinen Groschen vor die Himmelspforte gebracht, um St. Petrus, den Torschreiber Zions, bezahlen zu können.
Vielleicht hat Flottmann seine Lebensgeschichte selber geschrieben. Ich aber will zu der meinen zurückkehren. Ich blieb also in Rockenhausen hängen und mietete mich bei einem kleinen Brauer, namens Dietz, ein und zwar im zweiten Stock. Da im ersten eine stark besuchte Wirtschaft war, so konnte ich annehmen, daß mein kleines Doktorschildchen, vor dem der Messingring einer Nachtglocke sich schaukelte, meinen Namen rasch bekannt machen würde in der Gegend. Dem mag ja auch so gewesen sein, aber gleichwohl kam niemand, der nach meiner Hilfe begehrte. Es war zum Verzweifeln, wie ich als der Gefangene meines Berufes da saß und keine andere Abwechslung hatte, als die Faustschläge zahlen zu dürfen, mit denen die Gebrüder Mahlo, ihres Zeichens Schweinehändler, ihre Trümpfe unten auf die Tischplatte pfefferten.
Meinen kleinen Hausherrn selbst mußte meine Verlassenheit gerührt haben, denn er besuchte mich eines Tages, um mir den Vorschlag zu machen, ich möchte mich doch, um das Geschäft in Gang zu bringen, nach Marienthal hinterm Berge da drüben begeben. Ein Freund von ihm habe dort eine besuchte Wirtschaft. Es könne nichts schaden, wenn ich im Münstertale drüben mich sehen ließe.
Es war ein Samstag Nachmittag; aber kein Besen kehrte die Gasse. Der grausame Winter des Jahres 1879 auf 80 hatte in einem späten Wutanfalle noch einmal das Land mit Schnee überschüttet. Diesem Umstand Rechnung tragend, suchte ich meine Reitstiefel hervor und wärmte sie hinterm Ofen. Auch meine Reithosen konnten vorläufig einmal wieder eine nützliche Verwendung finden. Kaum zehn Minuten brauchte ich zum Umkleiden, und schon befand ich mich auf dem Wege nach Marienthal. Je höher ich stieg, um so mühsamer wurde mein Weg. In einer engen Schlucht plagte ich mich auf einem Fußpfade ab, von dem nichts zu sehen war. Immer öder die Gegend. Immer tiefer der Schnee. Meine Stiefel waren hoch und doch, der weiße Flaum fand seinen Weg zu den Schäften hinein. Spur war nur soviel vorhanden, als zwei Menschenfüße treten konnten, die offenbar kurz vor mir her auf dem gleichen Wege sich abmühten.
Hätte ich nicht vielleicht den unsichtbaren Wanderer einholen können? Der Gedanke quälte mich, denn ich fühlte das Bedürfnis, mich mit einer Menschenseele ein wenig zu unterhalten. Da, als ich eben durch eine Hecke mich durchgearbeitet hatte, sah ich vor mir, dem Wäldchen schon ganz nahe, einen Mann, der auf dem Rücken ein umfangreiches Bündel trug. Bald hatte ich den Beladenen eingeholt, denn er war alt und hatte mit dem
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