Erlebnisse eines Erdenbummlers
daß sie zum Ausruhen das leere Bett benutzt habe, bis der eigentliche Inhaber der Kammer käme. Zu einer mündlichen Verständigung konnte es leider zwischen uns beiden nicht kommen, da die Schöne nur schwedisch sprach und ich nur deutsch. Im übrigen tat ich alles nur Erdenkbare, um die Kleine zu beruhigen und sie wieder zur Fortsetzung ihres Schlummers auf die Kissen niederzudrücken. Dann verließ ich mit einer tiefen Verbeugung den engen Raum. ›Was war nun zu tun in der herbstlichen Nacht?‹ fragte ich mich mit Goethe und antwortete mir mit dem gleichen Autor: ›So hab' ich doch manche weit schlimmer verbracht,‹ ließ mir in der Küche einen steifen Grog brauen und setzte mich auf dem Verdeck in die Nähe des Maschinenraumes, wo es mollig warm und gemütlich war.
Nicht gar zu lange, und die Sonne des neuen Tages stieg ostwärts aus dem Meere herauf und beleuchtete rechts und links vom Schiff grüne Wiesen und menschliche Ansiedlungen. Wir waren bereits in die Trave eingelaufen, und südwärts winkten in der Ferne die Steildächer der Lübecker Kirchtürme. Eine Stunde noch, und der Dampfer hatte am Kai der alten Hansakönigin festgemacht. Mir eilte es wahrhaftig nicht, wieder auf festen Boden zu kommen, und ich verließ als der letzte von allen Passagieren das Schiff. Kaum war ich über den Laufsteg, da trat ein Herr auf mich zu mit einer tiefen Verbeugung, reichte mir die Hand und lud mich ein, um elf Uhr im Ratskeller zu erscheinen und seinGast zu sein. Ich wußte nicht gleich, wie ich einer solch' ausgesuchten Höflichkeit begegnen sollte, aber der Liebenswürdige ließ mich auch nicht zu Wort kommen. Er sagte mir, seine Braut habe ihm soeben erzählt, wie artig ich mich in letzter Nacht gegen sie benommen habe, und daß er's nur mir und meiner Höflichkeit verdanke, wenn sein Schatz heute so ausgeruht und rosig aussehe.
Da guckte ich mich denn gleichfalls um und erblickte zwischen den grauhaarigen Köpfen lächelnder Matronen das allerliebste Gesicht meiner Kabineninhaberin, und meine allzugroße Zuvorkommenheit der letzten Nacht wollte mich schier gereuen. Trotzdem nahm ich die Einladung zum Frühschoppen an, und ich muß sagen, bei gutem Gewissen habe ich selten eine so heitere Stunde verlebt wie die im Ratskeller zu Lübeck.
Bevor ich übrigens zum Frühschoppen gegangen war, hatte ich mir die Stadt angesehen und ihren uralten Dom. Seine Tore standen, weil's gerade Sonntag war, ausnahmsweise einmal offen. Sonst wohl möchte man fast vor jedem protestantischen Kirchenportal in seiner Unzugänglichkeit glauben, der Eintritt sei mit Lebensgefahr verbunden. Was legen sie Ketten vor die Tür, bei denen keine Monstranzen zu stehlen sind! Vertrauen ist Vertrauen wert.
Ich trat mit genügender Ehrfurcht in das mystische Halbdunkel des gotischen Backsteinbaues hinein und wurde von einem Kirchendiener empfangen, nach einem gepolsterten Stuhle gebracht, und es wurde mir ein sauberes Gesangbuch überreicht, derweilen mit lockendenTönen die Glocken läuteten. Aber mochten sie, die ehernen Zungen, auch bitten und betteln, außer einigen Frauen und Kindern kam kein Teufel und von Hosenbekleideten war ich der einzige, der schließlich unter der Kanzel saß und einem schmalbackigen Pastor zuhörte, wie er goldene Wahrheiten einfach ins Leere streute. Der Redner dauerte mich, zumal er noch von dem Sämann sprach, dessen Weizenkörner auf die Straße fielen. Um meine Bewegung zu verbergen, wäre ich gerne fortgegangen, aber ich fürchtete, daß der Schall meiner Tritte in den Kreuzgewölben oben das Echo und dieses die toten Glaubenshelden wecken könne, die in steinernen Sarkophagen seit der Schwedenzeit da herumstehen im gott- und menschenverlassenen Gotteshause. Ich wartete also den Segen ab und ging dann zwischen ein paar Schulmädchen zur Kirche hinaus.
Zwei Tage später saß ich zu Berlin im Kaffee Bauer und mir gegenüber am Tisch ein Herr, der mich neugierig musterte. Mit einem Male stand der Fremde auf, verneigte sich vor mir und sagte im Tone großer Höflichkeit: »Sind Sie nicht der Herr, der am Sonntag zu Lübeck meine Predigt angehört hat?«
»Die Stimme des Rufenden in der Wüste,« sagte ich.
Er lächelte wehmütig und entgegnete: »Was haben Sie nur von unserem Glauben gedacht, als Sie die weiten Hallen so schrecklich und beschämend leer fanden?«
»Was ich gedacht habe? Nun, daß der David des Protestantismus schwerlich jemals in die Rüstung des katholischen Goliaths hineinpassen
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