Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Religionswissenschaftler und Islamkenner zusammenzukommen, mit dem Julia und Will schon seit Längerem befreundet sind, und der für viele Religionswissenschaftler Nordamerikas faktisch so etwas wie ein Lehrmeister wurde: WILFRED CANTWELL SMITH (1916 – 2000) . Ich lerne ihn schon am Tag nach meiner Ankunft bei einem Abendessen kennen. Er, der zunächst viele Jahre als Missionar in Pakistan wirkte, hat als Erster den Grundsatz verkündet, der Islam müsse von Christen so verstanden werden, wie ihn die Muslime selber verstehen. 2 Er hat auch schon 1963 die Frage nach dem Koran als Wort Gottes oder Wort Muhammads scharfsinnig analysiert. Er machte deutlich, dass beide Antworten, die merkwürdigerweise beide von gleichermaßen intelligenten, kritischen und durchaus redlichen Muslimen gegeben würden, deutlich auf einem nicht hinterfragten dogmatischen Vor-Verständnis (»pre-conviction«) beruhen. Die jeweils gegenteilige Auffassung muss so entweder als Unglaube erscheinen (für Muslime, wenn Christen den göttlichen Ursprung des Korans leugnen) – oder aber als Aberglaube (für Christen, wenn Muslime den göttlichen Ursprung des Korans bejahen).
Unser Freund und Kollege Will Oxtoby wirft ein: »You get out what you put in – was einer zuerst hineinlegt, das bekommt er dann heraus!« Wer somit den Koran von vornherein für das Wort Gottes hält, wird sich bei der Lektüre immer wieder bestätigt sehen – und umgekehrt.Doch mit einem solchen Widerspruch, der auf die Dauer intellektuell nicht befriedigt, kann ich mich nicht abfinden. Und ich habe ja schon in meinen Tübinger Vorlesungen auf diese »unbequeme Frage«, wie oben angedeutet, eine differenzierte positive Antwort gegeben, die ich jetzt auch in Toronto vorlege. Man muss schlicht auch die positiven Aussagen der Hebräischen Bibel und des Neuen Testaments über die Nichtjuden und Nichtchristen ernst nehmen, wie dies ja auch in den Texten des Vatikanums II geschehen ist. Muhammad hat seine Botschaft nicht einfach aus sich selber, sondern beruft sich zu Recht auf Gott, wenngleich dies nicht heißen muss, dass der Koran direkt Wort für Wort von Gott nicht nur inspiriert, sondern diktiert worden sei.
Es ist für mich ein ausgesprochenes intellektuelles Vergnügen, mit einem kanadischen Gelehrten vom Format und der Menschlichkeit eines Wilfred C. Smith ein Seminar durchführen zu dürfen über verschiedene »Modelle des interreligiösen Dialogs«, zuerst mehrere Sitzungen über das Modell von Cantwell Smith, dann aber auch das von RAIMON PANIKKAR und anderen. Alles unter Beteiligung von aufgeweckten Studenten und manchmal auch Professoren.
Wilfred C. Smith beeindruckt mich nicht nur durch seine intimen Kenntnisse des Islam, sondern auch durch seine Zusammenschau der Religionen. Er spricht gerne von der »einen religiösen Geschichte der Menschheit« 3 . Und er liebt es darzulegen, wie etwa der Rosenkranz von Indien aus den Weg durch die verschiedenen Religionen gegangen ist und wie andererseits der Buddha als Bodhisattva zum christlichen Heiligen Josaphat geworden ist: Bodhisattva, manichäisch Bodisaf, arabisch Yudasaf, georgisch Jodasaph, griechisch Joasaph, lateinisch Josaphat. So sieht sich Wilfred auf dem Weg »Towards a World Theology« (London 1981).
Nun scheint es mir freilich in streng historischer Sicht angemessener, statt von der »einen religiösen Geschichte der Menschheit« von zwei oder drei großen religiösen Stromsystemen zu sprechen und diese genau zu analysieren: Judentum, Christentum und Islam jedenfalls sind ein solches nahöstliches Stromsystem semitischen Ursprungs. Und auch darin unterscheide ich mich von Cantwell Smith: In diesen Strömen können in Zeitenwenden epochale Gestalten auftreten wie Jesus von Nazaret oder auch der Prophet Muhammad. Sie sind in der Lage, den Strom in eine andere Richtung zu lenken.
Im Übrigen nutze ich, nachdem ich mich in Toronto eingelebt habe, die Wochenenden, um in verschiedenen Städten Amerikas Vorträge zu halten, nicht in erster Linie über den Islam, sondern auch über die viele Menschen umtreibende Frage: »Where is Christianity going? – Wohin geht die Christenheit?« Oder aber über die Frage: »Gibt es nur eine einzige wahre Religion?« Von Toronto aus mit seinen exzellenten Flugverbindungen reise ich in alle Himmelsrichtungen. Alles wird am 15. Dezember 1985 schließlich gekrönt durch die Verleihung eines Ehrendoktorats im Rahmen der großen Commencement-Feier der University of
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