Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
gebraucht: »Der nationalsozialistische Antisemitismus wäre nicht möglich gewesen ohne den Jahrhunderte langen Antijudaismus der christlichen Kirchen« (auch der lutherischen). Dies trägt mir den ersten geharnischten schriftlichen Tadel des damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal JULIUS DÖPFNER , ein. Ich antworte ihm mit einem ruhigen, aber bestimmten Brief. Leider kann ich gerade diese Korrespondenz in meinem Archiv nicht finden. Aber wichtiger ist vielleicht: Ich lege der Antwort an den Kardinal zur Begründung dieses Satzes das bereits fertiggestellte Kapitel C I,3 meines in Kürze erscheinenden Buches »Die Kirche« bei, in welchem ich die vielhundertjährige, unbeschreiblich entsetzliche Leidens- und Todesgeschichte dokumentiere, die im nazistischen Millionenmord am Judenvolk monströs kulminierte. Vonseiten des Vorsitzenden der Bischofskonferenz keine Antwort, aber auch keine Wiederholung seiner Mahnung.
1967 – zum ersten Mal in Jerusalem: Ich werde in einer Hotelhalle von einer jungen Schweizer Jüdin angesprochen: Was wir Christen denn eigentlich an diesem Christus Besonderes fänden, dessen Name sie hier in ihrer heiligen Stadt allüberall belästige und beunruhige. Es ging mir in diesem Moment auf, dass die konventionelle christliche Antwort, dieser Christus sei nun einmal nicht nur ein jüdischer Prophet, sondern der ewige Gottessohn, die zweite Person der Dreieinigkeit, das Gespräch beenden musste, bevor es begonnen hatte. Ich war zugegebenermaßen ein wenig hilflos und versuchte während einer halben Stunde zu entwickeln, was ich heute eine Christologie nicht »von oben«, vom Himmel hoch, von der Ewigkeit des Gottessohnes her, sondern »von unten«, von der jüdischen Erde, vom Juden Jesus von Nazaret her, nennen würde.
1967 – das Buch »Die Kirche« wird veröffentlicht: Es enthält ein langes Kapitel über den Jesus der Geschichte und macht deutlich, was Jesus eigentlich wollte, was die christliche Botschaft ist und was diese Botschaft von Jesus als dem Christus für die heutige Zeit bedeutet. Es war für mich eine faszinierende Erfahrung, die Gestalt Jesu von Nazaret zum ersten Mal von ihrem jüdischen Kontext her, zugleich in historischer Distanz und geschichtlicher Relevanz, dem heutigen Menschen wieder nahezubringen. Zum Jesus der Geschichte in scharfem Kontrast steht die furchtbare Geschichte des »christlichen« Antisemitismus, wie im Kapitel »Die Kirche und die Juden« ausführlich dargelegt. Immer deutlicher wird mir aber auch bewusst – nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit der Gottesfrage (»Existiert Gott?«, 1978) –, dass der Dialog zwischen Christen und Juden zu einem »Trialog« zwischen Juden, Christen und Muslimen werden sollte.
1974 – jüdische und christliche Theologen versammelt : Das war ungewöhnlich in der christlichen Theologie, aber in der Internationalen Zeitschrift für Theologie »Concilium« konnte man es wagen: Als Direktoren der Sektion Ökumenismus gaben WALTER KASPER und ich das Heft 10 des Jahres 1974 über »Christen und Juden« heraus, in dem jedes Thema von einem jüdischen und einem christlichen Theologen behandelt wird. Programmatisch formuliere ich die Einleitung: »Vom Antisemitismus zur theologischen Begegnung«. Es ehrt die jüdischen und christlichen Kollegen, die diese frühe theologische Begegnung mitmachten. 1
1978 – biblische Studienreise durch Israel : Vom 23. September bis 7. Oktober mit der Katholisch-Theologischen Fakultät drei Tage im Süden (Beerscheba, Negev, Totes Meer, Qumran), sieben in Jerusalem und Umgebung (Jericho, Betlehem) und schließlich drei in Galiläa (See Gennesaret, Nazaret, Kapernaum). Von unserem Kollegen und exzellenten Palästina-Kenner HERBERT HAAG erhalten wir hervorragende Einführungen in die biblischen Stätten und die archäologischen Ausgrabungen, aber natürlich auch in jüdisches Leben und die politische Situation.
1979 – Vortragsreise in Israel: Vom 5. bis 9. Mai auf Einladung der »Gesellschaft Schweiz – Israel«; als Verbindungsmann diente deren Vizevorsitzender Dr. YAKOV BACH. Vorträge in einem eher säkularen Kontext: »Wissenschaft und Gottesfrage« an der Universität Haifa (6. 5.) und auf Einladung und unter Vorsitz des großen Gelehrten GERSCHOM SCHOLEM in der Van Leer Foundation in Jerusalem, gemeinsam mit der Israelischen Akademie der Wissenschaften (7. 5.). Aber auch Zusammentreffen mit israelischen Persönlichkeiten beim Empfang in der
Weitere Kostenlose Bücher