Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
gemeinsame Wurzel: der Gottesdienst . Juden und Christen sprechen ihren Glauben im Gottesdienst aus, in dem sich vielfältige Gemeinsamkeiten finden. Viele Feste stehen in einem beziehungsreichen Zusammenhang, Pessach und Ostern beispielsweise. Das »Vater unser« ist wesentlich aus jüdischem Glaubensbewusstsein heraus formuliert, das »Magnificat« (Lk 1,46 – 55) und das »Benedictus« (Lk 1,68 – 79) sind ganz durchsetzt mit Worten aus der Hebräischen Bibel und haben dort Vorbilder. Bis in kleinste liturgische Formulierungen hinein, in »Amen«, »Halleluja« und »Herr Gott Zebaot«, zeigt sich die Gemeinsamkeit.
Fünfte gemeinsame Wurzel: Gerechtigkeit und Liebe . Es ist ein leider immer noch in manchen Kreisen verbreitetes übles Klischee, die jüdische Religion als Religion der Furcht und Gesetzlichkeit zu bezeichnen. Doch die Forderungen nach Gottes- und Nächstenliebe und Gerechtigkeit gerade für die Schwachen sind auch ihre Charakteristika.
Sechste gemeinsame Wurzel: Geschichte und Vollendung . Juden und Christen leben auch in der Trennung aus der gemeinsamen Geschichte Gottes mit seinem Volk, deren Vollendung sie erwarten. Die Geschichte der Welt bewegt sich nicht im Kreis, ist nicht ewige Wiederkehr des Gleichen, ist vielmehr zielgerichtet: eine Bewegung aus dem Unheil ins Heil. Letzter Sinn, letztes Ziel aller Geschichte ist das Heil Gottes für alle Menschen.
Aber sosehr der Glaube von Juden und Christen gemeinsame Wurzeln hat, so sind doch ihre Wege im Laufe der Jahrhunderte immer weiter auseinandergegangen. Was trennt mich denn als Christen noch heute von meinen jüdischen Mitmenschen?
Was uns trennt
Ich hebe die Hauptdifferenz deutlich hervor: Es ist zweifellos der Glaube an Jesus als Messias, griechisch als den Christus . Durch diesen Glauben gerieten die ersten Christen in Gegensatz zu anderen jüdischen Gruppen, traten jedoch zunächst nicht aus dem Judentum heraus. Mit Jesus ist für sie das Reich Gottes schon angebrochen, aber noch keineswegs vollendet. Aufgrund von Jesu grausamem Geschick erhielt der zuvor anders gedeutete Messiastitel eine neue Interpretation und meinte nun einen gewalt- und wehrlosen, deshalb verkannten, verfolgten, verratenen und schließlich leidenden und sterbenden »Gottesknecht«. Dieser gekreuzigte Messias oder Christus vor allem ist es, der zwischen Juden und Christen steht.
Die auf diesen Christus bezogene Auslegung der Schrift und die Entfaltung des Glaubens an ihn führen zu einer zweiten Differenz. Die Christen beginnen die gemeinsame Heilige Schrift anders zu lesen: vor allem die Verheißungen der Propheten, aber auch die verschiedenen Messiastitel, Messiasvorstellungen und Erlösungserwartungen. Im Zusammenhang der von Paulus vorangetriebenen Aufnahme von Heiden in die christliche Gemeinde verliert die jüdische Gesetzesordnung (»Halacha«) für Christen ihre rechtfertigende Bedeutung.
Die aus Juden und Heiden bestehende christliche Gemeinde versteht sich zunehmend als Volk Gottes – hier zeigt sich eine dritte Differenz – und gerät dadurch in einen Konflikt mit dem gleichen Anspruch des jüdischen Volkes. Für die Christen waren nicht mehr die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk und das Religionsgesetz, sondern der Glaube an Jesus Christus als den Gekreuzigten und Auferweckten ausschlaggebend.
Von diesen Grundlagen her kam es zu einer völlig unterschiedlichen Entfaltung der Eigenart von Judentum und Christentum – eine vierte Differenz: im Judentum das Bemühen um genaue Festlegung der Gebote Gottes und ihre minutiöse Einhaltung, im Christentum eine systematische Entfaltung der Glaubensaussagen durch die Aufnahme griechisch-hellenistischer Ideen und Vorstellungen und eine Dogmatisierung der offiziellen Christologie. Dass Jesus »gleichen Wesens mit Gott, dem Vater« sei und die langsam sich entfaltende Dreieinigkeitslehre – ein Gott in drei Seinsweisen oder Personen – erschienen den Juden (wie später auch den Muslimen) als klarer Verstoß gegen das erste Gebot, keinen Gott neben dem einen wahren Gott anzuerkennen.
Im Laufe der Jahrhunderte kam es nun – und das ist eine fünfte Differenz – zu einer fortschreitenden Entfremdung zwischen Juden und Christen , die sich bis zur offenen Feindschaft steigern sollte. Zuerst kam es zur Verfluchung der christlichen Ketzer (»Nazaräer«) durch jüdische Gemeinden und auch zu einzelnen Verfolgungen von Christen. Aber schwerwiegender ist: Nach der »konstantinischen Wende« im
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