Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Schweizer Botschaft in Tel Aviv und ein langes Gespräch über die politische Situation mit einem kundigen Diplomaten im israelischen Außenministerium in Jerusalem. Die Unterzeichnung des ägyptisch-israelischen Friedensvertrags am 26. März 1979 macht Hoffnung auf eine Verständigung auch mit den Palästinensern. Dazu Gespräche mit Professoren an der Hebräischen Universität. Für die jüdisch-christlich-muslimische Dialoggruppe Rainbow Club im Ökumenischen Institut von Tantur bei Betlehem halte ich ein Impulsreferat zum Thema »The attitude towards the Jewish People from a Christian ecumenical perspective« (8. 5.).
Dass meine Vorträge von aufgeschlossenen intellektuellen Kreisen in Israel mit großer Offenheit aufgenommen wurden, zeigte ein langer Artikel des berühmten Gelehrten SCHALOM BEN-CHORIN in der deutschsprachigen Zeitung »Israel Nachrichten« vom 18. Mai 1979. Er endet mit der Feststellung, dass weder die Spitzen der christlichen noch der jüdischen Hierarchie unter den Zuhörern waren: »Das offizielle Establishment der Religionen in Jerusalem hält ängstlich am Status quo fest und weicht Beunruhigungen aus. Küng aber ist ein geistiger Unruhestifter – und dafür sind wir ihm dankbar.« Ich konnte nicht ahnen, dass mir schon ein halbes Jahr später die kirchliche Lehrbefugnis entzogen wird (Dezember 1979 – Januar 1980).
1980 – Studium-generale-Vorlesung : In meiner ersten Vorlesungsreihe nach der großen Konfrontation mit Rom, im Wintersemester 1980, zur Thematik »Ökumenische Theologie. Perspektiven eines Konsenses der Zukunft« widme ich die zehnte Vorlesung der Frage »Ökumene mit den Juden?«. Das Judentum soll nicht nur als historische Größe, sondern auch als gegenwärtig gültige, lebendige Religion für Millionen Menschen ernst genommen werden. Dabei möchte ich den neuen Konsens herausarbeiten, der sich zumindest in Deutschland zwischen Katholiken und Protestanten gebildet hat und der seinen Niederschlag findet in den beiden Denkschriften, welche vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 1975 und von den deutschen katholischen Bischöfen im April 1980 veröffentlicht wurden. Christen und Juden müssen sich neu auf die gemeinsamen Wurzeln besinnen, über die wir früher weder mit unseren jüdischen Klassenkameraden noch mit unseren jüdischen Nachbarn gesprochen haben. Die Grundfrage: Was eint und was trennt mich als Christen von meinen jüdischen Mitmenschen?
Was uns eint
Die gemeinsamen Wurzeln finden wir kaum – wie manche christliche Theologen meinen, die Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes auch Juden verständlich machen wollen – in der jüdischen mystischen Geheimlehre »Kabbala« (ursprünglich »Überlieferung«); sie verspricht einen Zugang zu den Geheimnissen der Gottheit. Zwar hatte ich bei meinem vorangegangenen Jerusalem-Aufenthalt auch ein Gespräch mit dem führenden jüdischen Kabbala-Forscher GERSHOM SCHOLEM geführt (7. 5. 1979). Gerade er hat jedoch deutlich gemacht, dass es sich bei der Kabbala um eine jüdische Form der Gnosis handelt. Sie hatte ihren Höhepunkt vom 14. bis 17. Jahrhundert in einer Messiaserwartung, die aber enttäuscht wurde, sodass die kabbalistische Bewegung kein neues jüdisches Paradigma heraufführte, sondern unterging, von Überbleibseln im osteuropäischen Chassidismus abgesehen. Auch der amerikanische Kabbala-Forscher ZALMAN SCHACHTER , der mich, wie im Kapitel I berichtet, in Tübingen 1980 besucht, bestärkt mich indirekt in der Überzeugung, dass wir uns für den Dialog statt auf die mittelalterlich-kabbalistischen Quellen besser auf die ursprünglichen biblischen Wurzeln besinnen sollten. Ich fasse hier die Gemeinsamkeiten knapp zusammen, die heutzutage schon jedes Christenkind in Familie und Schule in einfacher Form lernen sollte:
Erste gemeinsame Wurzel: Der Glaube an den einen Gott , den Schöpfer und Erlöser der Welt und des Menschen, was eine Absage an alle vergöttlichten Weltmächte und Scheingottheiten besagt.
Zweite gemeinsame Wurzel: die Heilige Schrift . Juden und Christen gründen ihren Glauben auf die gemeinsame »Schrift«, die Hebräische Bibel oder das »Alte Testament«, auf das auch das »Neue Testament« der Christen bezogen ist.
Dritte gemeinsame Wurzel: das Volk Gottes . Juden und Christen verstehen sich beide als Volk Gottes, was keine Erwählung aufgrund besonderer Verdienste, sondern aufgrund seiner Gnade bedeutet und eine besondere Verantwortung zur Folge hat.
Vierte
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