Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
meiner ganzen Gymnasialzeit kann ich mich an keine antisemitische Bemerkung erinnern. Der eine der beiden wurde Arzt, der andere Apotheker. Aber über unseren verschiedenen Glauben haben wir damals wie auch später auf Klassenzusammenkünften nie gesprochen. Vom Ausmaß der Judenvernichtung im Nazideutschland hört man in der schweizerischen Bevölkerung erst gegen Ende des Krieges; der hoch geheim inszenierte Holocaust überstieg unser Vorstellungsvermögen, und erst die veröffentlichten Photos und genauen Berichte nach Kriegsende zeigten auch uns die Wirklichkeit dieser Katastrophe. Wie weit die Kirchen eine Mitschuld trifft an diesem größten aller Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ist mir damals nicht bewusst.
1960 – »Konzil und Wiedervereinigung« : In meinem Buch zur Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils hatte ich mich ganz und gar auf die innerkirchliche Erneuerung und die katholisch-protestantische Verständigung konzentriert und dem Verhältnis zum Judentum keine eigene Aufmerksamkeit gewidmet. Das ruft nach der Veröffentlichung der amerikanischen Ausgabe die heftige Kritik eines Rabbiners aus Chicago namens ARNOLD JACOB WOLF auf den Plan: Ich hätte das Vierte Laterankonzil 1215 als Reformkonzil gelobt, aber seine (mir in der Tat damals noch nicht bekannten) antijüdischen Maßnahmen mit Stillschweigen übergangen. Ob ich den ökumenischen Frieden zwischen Katholiken und Evangelischen »auf der Leiche des Juden« aufbauen wolle? Eine völlig unbegründete Unterstellung, aber eine überdeutliche Herausforderung, mich der Frage Kirche und Judentum eigens zu stellen.
1963 – Erste Vortragsreise durch die USA: Ich stehe mit 35 Jahren noch am Anfang meines Weges in der Theologie und habe mir zum Prinzip gemacht, mich nicht öffentlich zu Fragen zu äußern, die ich nicht gründlich studiert habe. Dazu gehört neben den Mariendogmen auch das Verhältnis der Kirche zum Judentum. Daher weiche ich diesbezüglichen Fragen möglichst aus. Doch sobald ich Zeit habe, studiere ich das Verhältnis Kirche und Judentum, und zu meinem großen Entsetzen erkenne ich hier – vor allem seit dem Hochmittelalter und den Kreuzzügen – eine Geschichte von Blut und Tränen : furchtbare Judenschlächtereien in Frankreich, im Rheinland, in Böhmen und in Palästina. Dann die Ausweisung der Juden aus England, Frankreich, Spanien, Portugal und die Vernichtung von 300 jüdischen Gemeinden im Deutschen Reich 1348/49. Schließlich die Pogrome der Neuzeit, besonders in Osteuropa. Und alles bisher in der Menschheitsgeschichte Dagewesene überbietend die Schoah.
1964 – Blockade des Judendekrets im Konzil : In der dritten Konzilssession erhalte ich gegen Abend des 9. Oktober1964die vertrauliche Information, PAPST PAUL VI. habe unter Druck kurialer und anderer Kreise entschieden, die Erklärungen über die Juden und über die Religionsfreiheit im Konzil zu blockieren. Ich helfe am Tag darauf in Zusammenarbeit mit Joseph Ratzinger und Karl Rahner, gewichtige Kardinäle zu einem Protestschreiben an den Papst zu animieren, und informiere unter Missachtung der gebotenen Geheimhaltung die Weltpresse. Unsere Aktion hat Erfolg, die Judenerklärung bleibt – wie die Erklärung über Religionsfreiheit – auf der Tagesordnung des Konzils (Bd. 1, Kap. IX: Kampf um die Judenerklärung).
1965 – Schlussabstimmung über die Erklärung »Nostra aetate«: In der letzten Session des Zweiten Vatikanischen Konzils kommt es am 28. Oktober 1965 zur feierlichen Abstimmung über diese Erklärung, in der die Kirche erstmals in der Geschichte mit der Autorität eines Konzils ihr Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen darlegt: 2312 Bischöfe sind dafür und nur noch 88 dagegen (darunter sicher der harte Kern der Kurie). Eine epochale Wende gegenüber dem Judentum ist erreicht: Die Juden seien nicht verflucht, sondern blieben Gottes auserwähltes Volk. Jesu Tod könne weder allen damaligen und erst recht nicht allen heutigen Juden angerechnet werden. Die Kirche beklagt alle Erscheinungen des Antisemitismus und verwirft jede Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Stand und Religion und bekennt sich zur Brüderlichkeit aller Menschen unter dem einen Gott, dem Vater.
1966 – kirchlicher Antijudaismus alsVoraussetzung des nationalsozialistischen Antisemitismus : Unterdessen hatte ich die entsetzliche Geschichte der Judenverfolgungen eingehend studiert und in meinen Kommentaren zur Judenerklärung wiederholt den Satz
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