Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
4. Jahrhundert kommt es durch die christliche Staatsmacht zur wachsenden Unterdrückung und Verfolgung der Juden, die im Mittelalter ihren Höhepunkt erreicht.
Doch mir liegt daran, dass wir uns im jüdisch-christlichen Gespräch nicht auf diese Differenzen versteifen, sondern weiter vorankommen. Deshalb möchte ich als Drittes hervorheben:
Was uns zusammenführen könnte
Wir kommen als christliche Kirchen im Gespräch mit den Juden nur weiter, wenn wir als Christen unsere Schuld an der grauenhaften Geschichte mit den Juden unzweideutig eingestehen . Nach Auschwitz gibt es für die Kirchen als Institutionen nichts mehr zu beschönigen oder zu individualisieren! Gewiss: der nazistische Antijudaismus war das Werk gottloser antichristlicher Verbrecher, unterstützt jedoch vom Schweigen großer Teile der Kirchen. Keine der antijüdischen Maßnahmen des Nazismus – Kennzeichnung durch den gelben Stern, Berufsverbote, Mischeheverbot, Plünderungen, Vertreibungen, Konzentrationslager, Hinmetzelungen, Verbrennungen – war neu; dies alles gab es schon im »christlichen« Mittelalter und in der »christlichen« Reformationszeit (die wüsten antijüdischen Hetztiraden Luthers!). Neu waren jedoch im 20. Jahrhundert die rassistische Begründung und die grauenvolle organisatorische Gründlichkeit, technische Perfektion und furchtbare Industrialisierung des Mordens und sein Umfang.
Doch sei mir die Bemerkung gestattet: Es gilt in dieser Schuldfrage ebenfalls zu bedenken, dass jetzt – über sechs Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg – Generationen von Deutschen (und auch von Israelis!) herangewachsen sind, die sicherlich an der Gesamtverantwortung des Volkes mitzutragen haben, die aber in jener Zeit des Grauens noch nicht geboren oder politisch noch nicht mündig waren. Ist es da politisch richtig, die Notwendigkeit der Erinnerung der Deutschen (und anderer Staaten) zu instrumentalisieren, vor allem um die unbedingte Unterstützung einer hochproblematischen israelischen Außenpolitik gegenüber den Palästinensern und den Arabern zu erreichen? Kann gute Außenpolitik auf Dauer auf einer historischen Schuld aufgebaut werden?
Einen zweiten wichtigen Schritt vorwärts würde auch die Anerkennung des Staates Israel durch die arabischen Staaten bedeuten. Nach der jüngsten furchtbaren Katastrophe des Judenvolkes ist das Wiedererstehen des Staates Israel – für die allermeisten Christen unerwartet! – das wichtigste Ereignis der jüdischen Geschichte seit der Zerstörung Jerusalems und des zweiten Tempels durch die Römer im Jahre 70 nach Christi Geburt. Diese Auferstehung des tot geglaubten Israel hat jene antijüdische christliche Theologie und Mythologie gründlich erschüttert, die in den Juden Verfluchte und zur Zerstreuung Verdammte sah (»Ahasver«, der »Ewige Jude«), als ob durch Jesus Christus die alttestamentlichen Landverheißungen je aufgehoben worden wären. Erfordert ist heute nicht ein diplomatisch-distanziertes Ignorieren des Staates Israel, aber auch kein unkritisches Sich-Identifizieren mit dessen konkreter Politik, vielmehr eine kritische Solidarität, gerade auch dort, wo wie im Palästinenser-Problem und in der Jerusalem-Frage offensichtlich Recht gegen Recht steht.
Der Glaube Jesu und der Glaube an Jesus
Für eine Verständigung ist drittens theologische Selbstkritik Voraussetzung . Meine Beobachtung ist: Selbst dialogbereite christliche Theologen verfolgen im Gespräch mit Juden öfters eine apologetische Tendenz, die Selbstkritik vermissen lässt. Sie geben sich alle erdenkliche Mühe, um gerade die von den Juden bestrittenen hellenistisch definierten Dogmen wie Menschwerdung Gottes, Wesenseinheit Jesu mit Gott und Dreieinigkeit, wenn schon nicht in der Hebräischen Bibel, so doch wenigstens bei irgendeinem der Rabbinen oder gar in der Kabbala, der jüdischen Mystik, zu entdecken. Wäre es aber umgekehrt nicht viel sachgemäßer, dass man unter christlichen Theologen ernst machte mit der Einsicht: Die späteren kirchlichen Dogmen sind selber im Licht gerade der jüdischen Überlieferung und der Hebräischen Bibel zu überprüfen? Schließlich waren Jesus selbst und seine ersten Jünger allesamt Juden, und christliche Dogmen dürften jedenfalls nicht gerade für sie, die ersten Christen, unverständlich bleiben. Angesichts einer solch selbstkritischen Position dürfte auch ein anspruchsvoller jüdischer Gesprächspartner bereit sein, das traditionell-jüdische Misstrauen, die Skepsis und oft gar
Weitere Kostenlose Bücher