Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
tätig werden – Neuerungen, die Schule machen:
– Bei der stets verständnisvollen und hilfsbereiten Universitätsverwaltung erreichen wir zum großen Ärger der Katholisch-Theologischen Fakultät, dass unser Institut für Ökumenische Forschung mit Personal und Lehrveranstaltungen im offiziellen Vorlesungsverzeichnis der Universität aufgeführt wird, und zwar nicht etwa als Appendix zur Katholisch-Theologischen Fakultät, sondern als fakultätsunabhängiges Universitätsinstitut auf eigenen Seiten mit ebenso großem Titel wie die Fakultäten.
– Um mit anderen Vorlesungen nicht zu kollidieren, führe ich, bisher nicht üblich, eine regelmäßige Abendvorlesung von 20.15 Uhr bis 21.45 Uhr ein; den Pedellen der Universität bin ich dankbar für ihr Entgegenkommen.
– Auch will ich das Thema jeder einzelnen Vorlesung schon vor Semesterbeginn bekanntgeben, damit den Hörern die Gesamtkonzeption von vornherein klar ist und sie wissen, was sie zu erwarten haben.
– Damit diese Vorlesungsreihe auch bekannt wird, lassen wir das ganze Programm (und das ist erst recht ungewöhnlich) auf große gelbe Plakate drucken, die an verschiedenen Stellen der Universität und auch in einzelnen Pfarreien ausgehängt werden.
Dies alles trägt dazu bei, dass das vorgesehene Auditorium Maximum nicht nur voll ist, sondern überfüllt. Es kommen rund 1000 Zuhörer und Zuhörerinnen. Die Vorlesung muss in den Festsaal gegenüber verlegt werden. Der gute Zuspruch wird die 13 Vorlesungen hindurch anhalten, und die Lokalzeitung wird regelmäßig sachlich darüber berichten. Mit diesen öffentlichen Vorlesungen ist das Studium generale an der Universität Tübingen neu begründet. Es hat sich auch bereits eine Arbeitsgruppe aus Professoren für die weitere Planung gebildet, die für ihr Brainstorming auch Wein und belegte Brote serviert bekommen – dieses Privileg hatte ich zur Auflockerung der Atmosphäre gewünscht und ist der Gruppe bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben. Das Studium generale soll Themen von allgemeiner Bedeutung für Mensch und Gesellschaft fachübergreifend zur Sprache bringen oder – wie es der Mitbegründer Walter Jens formuliert – Fragen der Wissenschaft in verbindlich-verständlicher Form als Fragen des Lebens darstellen.
Aber worüber soll ich nun gerade als Theologe reden? Der Titel meiner neuen Vorlesungsreihe ist nüchtern: »Ökumenische Theologie. Perspektiven für einen Konsens der Zukunft«. Aber dahinter verbirgt sich eine Vision, die sich im nächsten Jahrzehnt ständig verdeutlichen und verdichten und schließlich mit »Projekt Weltethos« einen eigenen Namen bekommen wird. Behutsam lasse ich mich auf neue Themen ein.
Kampf um die öffentliche Meinung
Die breit angelegte päpstlich-bischöfliche Inquisitionsaktion gegen mich – Höhepunkt jenes »Kanzelwort« der deutschen Bischöfe vom 7. Januar 1980 mit einer Auflage von 3,5 Millionen, in allen Kirchen Deutschlands zu verlesen – sollte mich nicht nur an der Universität marginalisieren und in katholischer Kirche und Ökumene isolieren, sondern sollte mich auch in der Öffentlichkeit überhaupt »unschädlich« machen. Ich musste deshalb alles tun, um auch in der breiteren Öffentlichkeit diese mein Wirken gefährdende Diskreditierung zu konterkarieren.
1980/81 halte ich an verschiedenen deutschen Universitäten große öffentliche Vorträge. 6 Aber politisch für mich wichtiger – angesichts meiner anhaltenden Ausgrenzung durch die kirchliche Hierarchie des Bistums Rottenburg-Stuttgart – ist ein großer Auftritt in der alten Reichsstadt Reutlingen, dem Wirtschaftszentrum unserer Region. Schon längst vor der großen Konfrontation mit Rom hatte mich der Präsident der Industrie- und Handelskammer Reutlingen, Dr. EBERHARD BENZ , mein rotarischer Freund, gefragt, ob ich für das 125-jährige Jubiläum der Kammer die Festrede halten wolle. Ich habe sofort zugesagt und bin nun gespannt, ob er nach all den öffentlichen Diskussionen um meine Position mich nicht doch bitten wird, aus Opportunitätsgründen auf diesen »Galaauftritt« zu verzichten. Aber erfreulicherweise war davon selbst in den schwierigsten Wochen keine Rede. Ein Lob der Zivilcourage!
Und so trete ich am 22. Oktober 1980 in der großen Friedrich-List-Halle der Stadt Reutlingen nach all den Grußworten und Klängen des Symphonieorchesters vor der rund 600köpfigen Prominenz aus Wirtschaft und Politik ans Rednerpult und spreche über das ungewöhnliche
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