Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
– ein liberaler Pharisäer?
Es scheint ein Topos der gegenwärtigen Debatte um den »Nazarener aus jüdischer Sicht« zu sein: Jesu Verkündigung stände nirgendwo mit dem mosaischen Gesetz in Konflikt, ja Jesu Gesetzesverständnis liege durchaus auf einer damals bekannten Linie pharisäischer Toraverschärfung, die angesichts vielfacher Verflachung und Veräußerlichung des Gesetzes auf eine Vertiefung und Verinnerlichung zielte. So meint schon SCHALOM BEN-CHORIN in Zusammenhang mit der Bergpredigt: »Er (Jesus) stellt der kasuistischen Verflachung des Gesetzes durch gewisse Schulen der Pharisäer die Urabsicht des Gesetzes gegenüber.« 11
Doch gerade in dieser Frage, mache ich gegenüber PINCHAS LAPIDE deutlich, gilt es in aller Behutsamkeit und Sachlichkeit zu differenzieren. Jesu Verkündigung darf nicht vom jüdischen Wurzelboden isoliert, darf aber auch nicht in ihn eingeebnet werden. Denn hier drängt sich ja nun doch eine entscheidende Frage auf: Hätte Jesus nur – wie die Propheten unter Anerkennung der Autorität Moses – zurückgerufen zur wahren Beobachtung des Gesetzes, hätte er nur wie die Rabbinen, die Gesetzesgelehrten, die Theologen seiner Zeit, aufgerufen, das Gesetz besser zu befolgen, wäre es dann zu jenem Konflikt gekommen, der schon im ersten Evangelium (nach Markus) von Anfang an ein Konflikt um das Gesetz war? Nach der Heilung eines behinderten Mannes am Sabbat »fassten sie den Beschluss, ihn umzubringen« (Mk 3,6). Es geht also um einen Konflikt auf Leben und Tod! Warum hätte sonst er, der doch kein politischer Revolutionär war, so grausam liquidiert werden müssen?
Zugegeben: Jesus hatte nicht die Absicht, das Gesetz abzuschaffen. Doch er scheint sich auch nicht gescheut zu haben, sich in entscheidenden Punkten über das Gesetz hinwegzusetzen. Und zwar nicht nur über die Tradition, die mündliche Überlieferung der »Alten«, die »Halacha«, sondern auch über die Heilige Schrift selbst, die »Tora«. Die Verbindlichkeit der mündlichen Überlieferung scheint er überhaupt stark relativiert zu haben: In Wort und Tat verstieß er sowohl gegen die kultischen Reinheitsvorschriften als auch gegen die Fastenvorschriften, insbesondere aber gegen die Sabbatvorschriften. Direkt gegen das mosaische Gesetz stand Jesus im Verbot der Ehescheidung, im Verbot des Schwörens, im Verbot der Vergeltung, im Gebot der Feindesliebe.
Diese Kritik Jesu am jüdischen Religionsgesetz wollte ich nicht verharmlost sehen: Der Nazarener hat das Gesetz nicht nur an bestimmten Punkten anders interpretiert; das taten auch die Pharisäer. Er hat das Gesetz auch nicht nur an bestimmten Punkten verschärft oder radikalisiert; das tat auch der »Lehrer der Gerechtigkeit« in den Qumran-Schriften. Nein, er, der durchaus gesetzestreu lebte, hat sich in Freiheit über das Gesetz hinweggesetzt und hat den Menschen zum Maß des Sabbats und des Gesetzes erklärt. Sowohl das »Ich aber sage euch« in den Antithesen der Bergpredigt als auch das sonst von niemandem am Anfang des Satzes gebrauchte »Amen« gibt der Relativierung geheiligter Traditionen und Institutionen durch Jesus exakten Ausdruck. Sie lässt in den Evangelien sofort die Frage nach der Autorität aufkommen, die hier in Anspruch genommen wird und die über die Autorität eines Gesetzestheologen und auch eines Propheten weit hinaus zu gehen scheint, sodass ihm nach allen Berichten auf Initiative der religiösen jüdischen Autoritäten von den Römern der Prozess gemacht wurde.
Die Gesetzesfrage ist eine Grundfrage religiösen Selbstverständnisses, die ich jedoch an alle Vertreter einer religiösen Gesetzlichkeit richte: an die des römischen Katholizismus nicht weniger als an die der jüdischen Orthodoxie. Es ist dies in der Folge auch eine politische Frage, die sich bis auf den heutigen Tag in der Gestaltung des öffentlichen Lebens im Staat Israel auswirkt, besonders im Streit zwischen liberalen und orthodoxen Juden um die Einhaltung des Sabbats: Kommt Gottes Wille in der exakten Beobachtung des Gesetzes zum Ausdruck oder im Tun des Willens Gottes?
Nein, ein typischer Pharisäer mit »Freude am Gebot« und kasuistischer Auslegung war Jesus nicht. Seine ganze Verkündigung hatte ihre eigene Stoßrichtung: Er verpflichtet weder neu auf die alte Gesetzesordnung, noch gibt er ein neues Gesetz, das alle Lebensbereiche umfasst. Stattdessen ruft er mit einfachen, befreienden Appellen den Einzelnen zum Gehorsam gegen Gott und zum Dienst am Nächsten auf,
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