Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
allem hermeneutische Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen einer Erneuerung im Judentum sowie über Schwierigkeiten im jüdisch-christlichen Dialog.
Einen denkwürdigen, uns alle begeisternden Abschluss dieser Arbeitstagung bereitet uns mein alter Freund aus Tübingen, inzwischen als Emeritus in Luzern ansässig, der Alttestamentler Professor HERBERT HAAG , mirals Herausgeber des historisch-kritischen Bibellexikons ein solider Berater in allen biblischen Spezialfragen, der mit Juden wie Arabern im Nahen Osten gute Beziehungen pflegt. Uns lädt er großzügig ins Hotel Montana über Luzern zu einem Abendessen ein, und von der Terrasse aus können wir das phantastische Feuerwerk des Seenachtsfestes auf dem Vierwaldstättersee bestaunen. Dass wir am Tag darauf noch über den See auf den Bürgenstock fahren und einen auf der Karte eingezeichneten, aber reichlich abenteuerlichen Fußweg zum Abstieg wählen, wird besonders unseren Damen in Erinnerung bleiben, die mit ihren eleganten, aber wenig geländegängigen Schuhen ihre liebe Mühe haben, was aber unser aller frohe Stimmung auf der Heimfahrt nicht stört.
In Deutschland haben wir aufgrund der nazistischen Judenverfolgung nur wenige kompetente jüdische Gesprächspartner. Der bekannteste und aktivste unter ihnen ist Dr. PINCHAS LAPIDE , 1922 in Wien geboren, 1938 in Palästina eingewandert, Offizier in der »Jüdischen Brigade« der englischen Armee im Zweiten Weltkrieg und dann als Diplomat viele Jahre im Dienst des israelischen Außenministeriums; 1965 – 71 Leiter des Staatlichen Presseamtes in Jerusalem, dann Abteilungsleiter und Senior Lecturer an der Bar-Ilan-Universität. Seit 1969 lebt er in der Bundesrepublik Deutschland. Pinchas Lapide: ein überzeugter und aufgeschlossener jüdischer Theologe, der sich höchst intensiv um die Verständigung mit den Christen bemüht. Dabei verfügt er nicht nur über ausgezeichnete Kenntnisse des Judentums, sondern auch über vorzügliche Deutschkenntnisse und eine markante Sprache.
Schon am 25. August 1975 hatte ich mit ihm am Südwestfunk eine Radiodiskussion gehalten über den entscheidenden Kontroverspunkt, den man in den neueren jüdisch-christlichen Dialogen meist ausspart, weil man keine Verständigungsmöglichkeit sieht: den Juden Jesus von Nazaret, der zwischen Juden und Christen steht. Für mich ein großes Wagnis, das ich nur eingehen kann aufgrund der mit dem Buch »Christ sein« unmittelbar zuvor abgeschlossenen historisch-kritischen Studien über Jesus. Der Dialog wird von uns beiden mit hohem Engagement geführt, und es gibt weder einen Sieger noch einen Besiegten, allerdings auch nicht das unbefriedigende »Open End« so vieler ähnlicher Diskussionen. Vielmehr zeigt sich hier auf der Basis der historisch-kritischen Forschung ein Weg, auf dem weiterzuschreiten für beide Seiten sich lohnt, wenn man mehr als eine Stunde Zeit hat. Es zeigt sich Hoffnung. Und so haben wir diesen »jüdisch-christlichen Dialog« unter dem Titel »Jesus im Widerstreit« 10 im folgenden Jahr auch veröffentlicht.
Ich bleibe mit Pinchas Lapide in Verbindung. Vom 22. bis 24. Oktober 1982 halten wir mit ihm und seiner Frau den Arbeitskreis unseres Instituts in Worms. Thematik: »Die Bergpredigt aus jüdischer Sicht«. Arbeitssitzungen interessanterweise im »Schlösschen«, wo Luther 1521 vor Kaiser Karl V. stand. Wir diskutieren zuerst über die Seligpreisungen, dann über die sogenannten Antithesen, weiter über die Ur-Intention der Feindesliebe, schließlich über das Vaterunser. Wir besuchen zusammen auch Judenfriedhof und Synagoge. Dann eine Sabbatfeier und ein Abendessen im Haus meiner Schülerin lic. theol. ADELE WEIRICH mit echter Liebfrauenmilch (der echte Wein dieses Namens muss im Schatten des Wormser Liebfrauendoms gewachsen sein).
Ich weiß nicht, wie viele Vorträge ich zum besseren gegenseitigen Verstehen von Juden und Christen gehalten habe. Als ich von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Düsseldorf angefragt werde, dort am 1. Oktober 1988 zu Lapides 65. Geburtstag den Festvortrag zu halten, sage ich selbstverständlich zu. Für das Sommersemester 1989 lade ich Pinchas Lapide zu Dialogvorlesungen im Studium generale an der Universität Tübingen ein. In vier Doppelvorlesungen wird für unsere konzentriert zuhörende große Hörerschaft das Gemeinsame wie das Unterscheidende sehr schön deutlich. Doch in einem zentralen Punkt zeigt sich ein bleibender Dissens:
Jesus
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