Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
der das ganze Leben umfassen soll. Gerade die Bergpredigt zielt ja mit ihren Appellen nicht auf eine gesetzliche Fixierung des göttlichen Willens und des menschlichen Tuns, sondern auf das, was sich aller Gesetzlichkeit entzieht: ein »Mehr«, das auf das Ganze des Menschen zielt, das Unbedingte, Übergesetzliche.
Und so kann ich Pinchas Lapide nicht zustimmen, wenn er die ganze Schuld an Jesu Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung der römischen Besatzungsmacht zuschieben will, sosehr diese auch beteiligt war. Denn es ist ursprünglich der Konflikt mit dem Gesetz und so mit dem jüdischen Establishment, der in Jesu Kreuzestod kulminiert. Für damals konnte der Tod Jesu nichts anderes bedeuten als: Das Gesetz hat gesiegt! Als Gekreuzigter erschien Jesus als Gottverfluchter. Und die Konsequenz, gerade diesen Gekreuzigten – im Horizont der jüdischen Auferweckungshoffnung – als Lebendigen zu verkündigen, machte und macht den eigentlichen Skandal der christlichen Verkündigung aus.
Von daher stellt sich die Frage nach der Orientierungsnorm: das Gesetz oder der Wille Gottes und das Wohl des Menschen –, die dem Buchstaben des Gesetzes übergeordnet sind: Der Sabbat ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um des Sabbats willen! Eine Frage, die heute im biblischen und aktuellen Kontext in der Diskussion mit den Juden neu aufzugreifen wäre.
Doch darf auf keinen Fall die Verwicklung jüdischer und römischer Autoritäten zu einer Kollektivschuld des damaligen Judenvolkes und gar des heutigen Judenvolkes gemacht werden, was unendlich viel Leid über dieses Volk gebracht hat und unter dem Naziregime nur wenige deutsche Juden überleben ließ.
Jüdische Bekannte und Freunde
Am 7. Dezember 1990 halten wir an der Universität Tübingen auch ein Kolloquium mit dem 1907 in Köln geborenen und nach dem Krieg aus der Emigration nach Deutschland zurückgekehrten Literaturwissenschaftler HANS MAYER . Marxistisch orientiert, war er 1948 – 63 Professor in Leipzig, dann aber vom totalitären kommunistischen Regime der DDR enttäuscht, nach Lehrtätigkeit an der TU Hannover seit 1975 Honorarprofessor in Tübingen. Aufgrund seiner soziologisch-historisch angelegten Werke in der Literaturwissenschaft eine nationale Größe. Da er am selben 19. März wie ich seinen Geburtstag feiert, habe ich ihn auch zu meinem 70. Geburtstag zum Festessen ins Schloss Bebenhausen eingeladen. Ich finde es sehr wichtig, dass wir das Gespräch auch mit völlig säkularisierten Juden führen, wie ich dies ja schon früher mit dem marxistischen Philosophen ERNST BLOCH praktiziert habe.
Doch würde ich andere wichtige jüdische Persönlichkeiten sträflich übergehen, wenn ich meine Begegnungen mit ihnen nicht wenigstens kurz und dankbar erwähnen würde. Da ist in erster Linie der schon in meinem zweiten Erinnerungsband erwähnte MARCEL REICH-RANICKI , Deutschlands bedeutendster Literaturkritiker, mit dem ich in Begleitung von Walter und Inge Jens öfters in Bayreuth den Wagner-Festspielen beigewohnt habe und der mehr als einmal auch in meinem Haus zu Gast war. »Jude sein ist immer gut!«, ist eines seiner Lieblingsworte. Ein Bestseller wurde seine Autobiographie: »Mein Leben« (1999). Über seinen späteren Konflikt mit Walter Jens, durch einen einseitigen »Spiegel«-Artikel von dessen Sohn Tilman provoziert, bin ich sehr unglücklich.
Ich habe schon davon berichtet, welch wichtige Rolle der große jüdische Musiker und Humanist YEHUDI MENUHIN für mein Filmprojekt über die »Weltreligionen auf dem Weg« gespielt hat (vgl. Kap. IV: Einzigartige Chance: »Spurensuche«). Nie hatte ich daran gedacht, dass ich ihm einmal freundschaftlich verbunden sein würde. Das hängt zweifellos mit seinem großen Interesse für die Weltreligionen und seiner Begeisterung für das Projekt Weltethos zusammen. Auf meine Bitte um einen Beitrag im Sammelband »Ja zum Weltethos. Perspektiven für die Suche nach Orientierung« (1995) schreibt er statt eines Aufsatzes ein sehr persönliches Gebet, das von seiner universal orientierten Religiosität zeugt; es endet mit den Sätzen:
»Gewähre mir die Erleuchtung, die Du für die Menschheit vorgesehen hast. Ermutige mich, zu verehren und solch lebendigen Beispielen zu folgen, die Deinen Geist bewahren – den Geist in uns und jenseits von uns allen, den Geist des Einen und des Vielen – die Erleuchtung Christi, des Buddha, des Laotse und der Propheten, Weisen, Philosophen, Dichter,
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