Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
stellt das Ideal der Einehe ja nicht infrage, wohl aber überstürzte Methoden der Inkulturation des Christentums.
Im Gespräch mit dem alten Häuptling stelle ich fest, dass dieser noch von den drei Brüdern MICHAEL, PATRICK und JAMES LEAHY weiß, die in den 1930er-Jahren als erste Weiße ins Hochland gekommen waren, und zwar nicht als Anthropologen oder Missionare, sondern als Goldsucher. Wenige Wochen zuvor hatten wir in New York das Glück, einen Film mit dem Titel »First Contact« zu sehen: der erste Kontakt von Weißen mit der etwa eine Million Menschen zählenden Urbevölkerung im Hochland von Papua-Neuguinea. Die Leahys hatten erfreulicherweise eine Filmkamera mitgenommen, und der Film zeigt, wie die drei zuerst von den »Eingeborenen« sehr freundlich aufgenommen worden waren. Aber dann war es zu einem ungeheuren Kulturschock gekommen. Als die Ureinwohner aus dem mitgebrachten Grammophon plötzlich Operngesänge von der Schallplatte hören, zeigen sie alle Zeichen des Schreckens: Sie nehmen an, ihre eigenen Toten seien in der Person dieser Weißen als Geister zurückgekommen! Ihre Ehrfurcht vor den Ahnen ist groß, die Geisterwelt ist für sie eine Realität. Die dem Film hinzugefügten Kommentare der beiden noch lebenden Leahys einerseits und der Stammesangehörigen andererseits zeigen uns, dass der durch die weiße Invasion ausgelöste Kulturschock noch keineswegs überwunden ist.
Am nächsten Tag fahren wir mit dem Auto weiter nach Wabag, wo ich auch den katholischen Bischof besuche, der mich voller Freude aufnimmt und gleich aus dem Büchergestell triumphierend das Buch »Christ sein« herausholt. Nachts in der Lodge bewachen uns mit Federn geschmückte Einheimische. Wenn man sie nicht gekannt hätte, hätte man beinahe Angst bekommen können. Ihre Gesichter sind meist bemalt, die Augen zusammengekniffen wie die von Jägern, die ständig nach Feinden Ausschau halten müssen. Bei den Fahrten über Land aber müssen wir verschiedentlich die Autofenster schließen, da Gefahr besteht, von vergifteten Pfeilen bestimmter Stammesangehöriger getroffen zu werden, die untereinander oder auch der Weißen Feind sind.
Am nächsten Tag haben wir Gelegenheit, statt einer stundenlangen Autofahrt in relativ kurzer Zeit mit einem Missionsflugzeug nach Mount Hagen zu fliegen. Hier werden wir bestens betreut von dort arbeitenden Feldforschern wie PETER VAN FLEET und DIANE BELL . Mit ihnen und anderen kann ich Fragen diskutieren, die mich schon seit Langem beschäftigen. An der University of Michigan war ich nämlich befreundet mit einem hervorragenden Spezialisten, ROY (SKIP) RAPPAPORT , Ritenforscher und Begründer einer ökologischen Anthropologie; er starb 1997. So wurde ich auf Autoren wie Spencer, Gillen, Strehlow und den führenden Experten auf dem Gebiet des Körperschmucks (Self-Decoration), ANDREW STRATHERN (Einführung zu Malcolm Kirks großartigem Fotoband »Man as Art: New Guinea«, 1981), aufmerksam.
Wir haben im Januar 1984 Glück mit dem Wetter. Diese Insel unmittelbar südlich des Äquators, fast doppelt so groß wie Frankreich, ist eher ein Regen- als ein Sonnenland. Und das Leben in den Bergen, geprägt von Handarbeit und Ackerbau, ist hart und verlangt nach Ausgleich. Die Papuas verschaffen ihn sich durch Rituale, Körperbemalung und Festlichkeiten, etwa für Fruchtbarkeitsriten, Initiationen, Versöhnungsfeiern, Totengedächtnis … Jetzt, als wir im Lande sind, gibt es leider kein großes Fest, an dem oft Hunderte bunt bemalter und tanzender Menschen teilnehmen.
Aber unser Führer Benjamin hat Beziehungen zu einer Stammesgruppe, die uns gestattet, als Fremde bei einem »Sing-Sing« dabei zu sein, einer Art Tanzzeremonie von etwa 20 Männern und Frauen. Sie tanzen mit den Füßen stampfend nach dem Rhythmus der Trommel, dabei oft tierähnliche Laute ausstoßend. Nicht nur Gesicht und Brüste, ihren ganzen Körper haben sie üppig bemalt in intensivem Weiß, Schwarz, Rot oder Gelb, mit Asche, Schweinefett, Öl, Blättern und Gräsern. Dazu Schmuck aus Muscheln, Knochen, Federn, Pelzen und buntem Tuch. Alles für uns höchst fremd und unverständlich. Nach der Erklärung von Andrew und Marilyn Strathern handelt es sich hier nicht um kosmetische Kunst oder simple Körperbemalung, vielmehr wollen die Tanzenden durch ihre Kostümierung und Körperbemalung für sich und die eigene Gruppe Stärke und Macht demonstrieren. Paradiesvogelfedern und Schnäbel von Kasuaren (flugunfähigen Straußenvögeln)
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