Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
christlich-orthodoxen (rund 45 Prozent), so umfasst die islamische Bevölkerungsgruppe 2011 45 – 50 Prozent und die der äthiopisch-orthodoxen Christen nach gewissen Schätzungen nur noch 35 – 40 Prozent (dazu 12 Prozent Animisten) – ein Symbol vielleicht für die Entwicklung in Afrika überhaupt?
Konfrontation oder Begegnung zwischen Christentum und Islam?
Dass der Islam seit dem 7./8. Jahrhundert auch in Afrika mit ungeheurer Dynamik offensiv vorgegangen ist, beweisen nicht nur die rasche militärische Eroberung und die folgende Islamisierung und Arabisierung Nordafrikas. Seit dem 11. Jahrhundert setzt sich dieser Prozess der Islamisierung , freilich sehr viel langsamer und meist auch friedlicher, südlich der Sahara fort. Dies geschieht in der Regel auf drei Wegen : nilaufwärts in das Gebiet des Sudan, gestoppt freilich durch die natürliche Bergfeste Äthiopien; zweitens mittels Karawanenhandel, aber auch Kriegszügen quer durch die Sahara zum Rand des Urwaldgürtels; schließlich durch Seehandel und Emigration über das Rote Meer nach Eritrea und die ostafrikanische Küste entlang bis zu den Inseln Sansibar und Madagaskar im Indischen Ozean. 1
Seit meiner ersten Afrikareise 1955 und erneut auf der großen Informationsreise, die ich am 10. Januar 1986 in Nigeria starte frage ich mich: Warum fällt die Erfolgsbilanz des Islam in Afrika so viel besser aus als die der christlichen Kirchen, die es an Missionsanstrengungen wahrhaftig nicht haben fehlen lassen? Von zehn Schwarzafrikanern, die sich von ihrer traditionellen Religion abwenden, heißt es, würden drei Christen und sieben Muslime. Die Antwort mancher christlicher Autoritäten Afrikas überzeugt mich nicht: Dies sei nur den Ölmillionen aus Saudi-Arabien, den Golfemiraten und Libyen zuzuschreiben, die im subsaharischen Afrika den Bau von Moscheen, Koranschulen und islamischen Missions- und Kulturzentren ermöglichen. Man vergisst auf christlicher Seite allzu leicht, dass bis auf den heutigen Tag ungezählte Millionen Dollar an Unterstützung aus Europa und Amerika zu den christlichen Kirchen nach Afrika fließen, von denen die allerwenigsten die (etwa von der chinesischen Regierung von den Kirchen geforderten) »drei Selbst« erfüllen: Selbstfinanzierung, Selbstverwaltung und Selbstverbreitung, die auch für die afrikanischen Kirchen wünschenswert wären.
Auch wenn man die Macht des Erdöls, dieses »Geschenkes Allahs«, durchaus nicht unterschätzen sollte, sind meinen Erfahrungen zufolge für die Erfolgsbilanz des Islam vor allem auch religiös-theologische Gründe entscheidend. Schon damals in Nigeria – heute mit 140 Millionen Einwohnern Afrikas volkreichster Staat, davon die Hälfte Muslime – stelle ich konkret fest:
– Den Neubekehrten erscheint der islamische Glaube (an den einen Gott und seinen Propheten) elementarer und verständlicher als der christliche: Keine so schwer zu verstehenden (»geheimnisvollen«) Inhalte wie Dreifaltigkeit, Menschwerdung Gottes und Erlösertod am Kreuz werden ihnen zugemutet. Das kann ich, wie berichtet, in Lagos bei einer intensiven Diskussion mit führenden nigerianischen Muslimen feststellen (vgl. Kap. V: »Diskussion über den Gottessohn: Nigeria«).
– Manchen Afrikanern erscheinen auch die Grundregeln islamischen Handelns vernünftiger : keine radikalen Forderungen von Nächsten-, gar Feindesliebe. Dafür verständliche und angepasste Gebote wie tägliche Gebete in Richtung Mekka, alljährlich ein Fastenmonat, einmal im Leben eine Wallfahrt nach Mekka und im Übrigen kein Alkohol und Schweinefleisch.
– Besonders erscheint die Sexualmoral verständnisvoller : Was christliche Missionare als schwere Sünde brandmarken, was aber noch Israels Erzväter praktiziert haben und in Afrika in vielen Stammesgesellschaften seit Menschengedenken Sitte ist, das erlaubt der Islam: die Vielehe. Im Übrigen würden, so denkt die große muslimische Mehrheit in Nigerias Norden, die einfachen und verständlichen Regeln der Scharia der Willkür der Herrschenden besser Schranken setzen als das komplizierte und die Herrschenden begünstigende demokratische Rechtsverfahren. Doch seit dem Jahr 2011 sind auch die grausamen und menschenverachtenden Auswüchse des Scharia-Strafrechts in Nordnigeria offenbar geworden, das weitgehend auch Nichtmuslimen aufgezwungen wurde.
Damals jedenfalls wird mir immer klarer: Der Islam scheint vielen Menschen gerade auch im Norden Nigerias überzeugender als
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