Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
doch um das Eingeständnis nicht herumkommen: Die spanisch-portugiesische Eroberung, mit der die christliche Missionierung nun einmal Hand in Hand ging, bedeutete für die lateinamerikanischen Indianerkulturen einen ungeheuren Schock, eine gewaltsame Zerstörung, Versklavung, Verelendung, kurz, eine schlechthinnige Katastrophe , für welche mit den Conquistadores auch die Missionare, mit dem Staat auch die Kirche, mit den katholischen Königen auch die Päpste Verantwortung tragen. Die reichen Golddekorationen in spanischen Kirchen und an der Decke der römischen Basilika Santa Maria Maggiore erinnern daran.
Kein indianisches Paradigma des Christentums
Es muss vielen Indios wie Hohn in den Ohren geklungen haben, als Papst BENEDIKT XVI. auf seiner Lateinamerikareise 2007 feierlich verkündete, ihre Vorfahren hätten eine »stille Sehnsucht« nach den christlichen Eroberern gefühlt (Rede im brasilianischen Wallfahrtsort Aparecida, 13. Mai 2007, auf die das Motto dieses Kapitels VII Bezug nimmt). Hat er die Fakten nicht gewusst, oder wollte er sie nicht wissen? Schon auf der Insel Hispaniola (heute Haiti und Dominikanische Republik) waren damals den Angaben des kolonisationskritischen Dominikaners BARTOLOMÉ DE LAS CASAS und anderer zufolge nach dem Auftreten der Europäer zahllose Indianer gestorben: durch Unterernährung, Verzweiflung, Selbstmord ganzer Familien oder durch Ansteckung an neuen, von den Fremden eingeschleppten Krankheiten, von all den willkürlichen Massakern nicht zu reden. In den vier Jahren nach der »Entdeckung« (bis 1496 also) waren auf der Insel schon 33 Prozent der Indianer umgekommen, ja in den ersten 20 Kolonialjahren sogar 90 Prozent, sodass die indianische Rasse auf dieser Insel in wenigen Jahrzehnten völlig verschwand.
Aber nicht nur von der Karibik, sondern vom ganzen lateinamerikanischen Kontinent gilt: Hier überall geschieht Bekehrung durch Eroberung, und zwar durch Eroberung der Sprache, des Kultes, und vor allem des reichlich vorhandenen Goldes wegen, das zunächst das Hauptmotiv der europäischen Expeditionen ist. Es kommt zu einer »Entdeckung« Amerikas durch Europäer, ja, aber nicht zu einer Entdeckung der Amerikaner! Und während etwa im europäischen Frühmittelalter die Missionierung der Germanen – gewaltlos etwa in Britannien und in Skandinavien – zumindest teilweise auch eine Germanisierung des Christentums einschloss, was so zu einem eigenständigen mittelalterlichen Paradigma des Christentums führt, so findet in Lateinamerika gerade keine Indianisierung des Christentums statt. Die unterworfenen Völker, von deren Kultur man nichts versteht, deren Mythen und Riten als Teufelswerk gelten und denen man mit ihrer Religion weithin auch ihre Kultur genommen hat, sind anders als die germanischen Völker nur die passiven Instrumente für die von den europäischen Eroberern geplante und durchgeführte Konstruktion der Christenheit in Lateinamerika.
Es hat auch Gegenzeichen gegeben: die »pueblos hospitales« des Bischofs VASCO DE QUIROGA (ca. 1470 – 1565) für Indios in Mexiko und die »Reduktionen« der Jesuiten, vor allem in Paraguay 1609 – 1767. Hier will man eine andere, vom Staat unabhängige indianische »Christenheit«. Aber gerade sie kann sich geschichtlich nicht durchsetzen; diese hoffnungsvollen Ansätze scheitern an der Mentalität der Kolonisten und der imperialistischen Kolonialpolitik der Krone, aber auch an der Mehrheit der Missionare. Vereinzelte Bemühungen um die indianischen Sprachen und Kulturen wie später einige recht armselige synkretistische indianische Bewegungen sind kein Gegenargument gegen die These: Von einem spezifisch indianischen Paradigma des Christentums und in diesem Sinne von einer »cristiandad indiana«, einer »indianischen Christenheit« , kann keine Rede sein! Bisher spricht man denn auch ehrlicher von einer »cristiandad ibero-americana« oder »latino-americana«! Meine Erfahrungen in Südamerika werden bestätigt von HANS-JÜRGEN PRIEN , dem Verfasser der umfassendsten Geschichte des Christentums in Lateinamerika 2 , der das entsprechende Kapitel überschreibt: »Mission als Hispanisierung: Das Scheitern einer indianischen Kirche«! Ist es da so erstaunlich, dass viele Indios (in Spanisch-Amerika) und auch Schwarze (in Brasilien) sich wieder auf die verschütteten ureigenen Traditionen besinnen, die nur im Gewand christlicher Bräuche überlebten?!
Der Zusammenhang zwischen Befreiung in der
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