Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
sondern auch in absoluten, da wir es mit einer Dezimierung der Gesamtbevölkerung um schätzungsweise 80 Millionen Menschen zu tun haben. Keines der großen Massaker des 20. Jahrhunderts kann mit diesem Blutbad verglichen werden. Man wird verstehen, wie vergeblich die Bemühungen mancher Autoren sind, die sogenannte ›schwarze Legende‹ zu widerlegen, die Spanien für diesen Völkermord verantwortlich gemacht und damit seinem Ruf schwer geschadet hat.« 3
Ich füge hinzu: Verantwortlich ist neben Spanien eine Kirche, die sich vom absolutistischen Staat willig als Instrument und moralischer Stabilisator gebrauchen ließ. Trotz aller auch positiven Leistungen Einzelner trägt die Kirche aufgrund ihrer Zwangsmissionierung eine schwere Mitschuld. Diese gewaltsame Eroberung, Ausbeutung, Missionierung und auch Ausrottung heute vonseiten der Kirche in einen »demographischen Kollaps« (»colapso demografico«) umzudeuten, vergleichbar dem Rückgang der europäischen Bevölkerung um ein Drittel durch die Pest im 14. Jahrhundert, ist eine zynisch klingende Verharmlosung, die dem tatsächlichen historischen Sachverhalt hohnspricht.
Ein Schuldbekenntnis der Kirche fällig
Wenn es auch in Lateinamerika nicht wie im Holocaust um eine von der höchsten politischen Autorität angeordnete, systematisch organisierte und hoch technisiert durchgeführte Ausrottung eines ganzen Volkes samt Frauen und Kindern ging und wenn auch in der Tat vielleicht die Hälfte der einheimischen Bevölkerung durch die zahlreichen von den Europäern eingeschleppten Krankheiten den Tod fand, so wird man doch in jedem Fall von einem ungeheuren Genozid sprechen müssen. Auch angesichts aller aufopfernden Taten mancher Priester und Bischöfe: ein Völkermord, an dem die offizielle Kirche – trotz der Einsprüche einzelner Theologen, mancher Missionare und trotz zahlreicher Gegenaktionen besonders aus den Orden – eine historische Mitschuld trägt. Selbst Naturrechtstheologen an der Universität Salamanca, die wie die Krone für die Verbesserung der Behandlung der Indios eintraten, rechtfertigten den Krieg gegen Indios, die nicht viel besser als Vieh und wilde Tiere seien. Und bis heute werden die Indianer mancherorts weithin auch vom Staat eher als unmündige Kinder denn als vollgültige Menschen behandelt.
Im Hinblick auf einen Neubeginn im 3. Jahrtausend erfordert die Schuld gegenüber den Indios (ähnlich wie gegenüber den Juden) nicht »historische« Verschleierungen und apologetische Entschuldigungen, sondern – in gemeinsamer Trauer mit den Betroffenen – ein unzweideutiges offizielles Schuldbekenntnis und eine ehrliche Bitte um Vergebung. Um diese haben sich aber auch anlässlich der 500-Jahr-Feier der Evangelisierung Lateinamerikas in Santo Domingo im Oktober 1992 Papst JOHANNES PAUL II. und der südamerikanische Episkopat herumgedrückt.
An sich sollte es ähnlich wie auf der zweiten Vollversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín (1968) und der dritten in Puebla (1979) auch auf dieser vierten Vollversammlung von Santo Domingo (1992) um die religiös-politische Stellung der Kirche in der Welt gehen, jetzt aber unter völlig neuen kirchlich-politischen Vorzeichen. Viele fürchteten, dass das von Rom und den permanenten Organen der CELAM, der Bischofskonferenz von Lateinamerika, vorbereitete Dokument unter dem Titel »Nueva evangelización – promoción humana – cultura cristiana« – also Neuevangelisierung zur Förderung des Menschen mit dem Ziel einer christlichen Kultur – vor allem dazu dienen sollte, die entscheidenden neuen Aussagen von Medellín zu domestizieren, die gut 25 Jahre zuvor eine historische Wende in der lateinamerikanischen Kirche eingeleitet hatten. Ist doch »Medellín« ein mächtiges, für viele gefährliches Symbol für die Abkehr der katholischen Kirche von der traditionellen Politik des Bundes mit den Mächtigen in Politik und Wirtschaft zugunsten einer neuen Entscheidung für die Machtlosen, einer vorrangigen Option für die Armen. Und in der Tat hatte die lateinamerikanische katholische Kirche in Medellín zum ersten Mal offiziell zur Kenntnis genommen, was sie vorher nicht sehen wollte: Die Lage von Millionen von Menschen beruht auf einer Situation der Ausbeutung und der Unterdrückung, die überall in Lateinamerika in den Städten wie auf dem Land strukturelles abgrundtiefes Massenelend erzeugt.
Bleibende Aktualität der Befreiungstheologie?
Meine Erkundung Lateinamerikas setzt
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