Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Elendsviertel der Stadt (hier Ranchitos genannt), in denen schon damals rund 200.000 Menschen leben. Dies wiederholt sich faktisch in allen großen Städten Lateinamerikas, die wir besuchen. Besonders deutlich später dann in Rio de Janeiro der ungeheure Kontrast zwischen den wohlhabenden Vierteln an den Stränden Ipanema und Copacabana und den darüber liegenden Elendsvierteln, hier »Favelas« (»Favela« = »Kletterpflanze«) genannt. Sie waren infolge der Zuwanderung nach den Sklavenbefreiungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts angewachsen und haben sich schon bis 1978 mit etwa 300.000 Bewohnern immer weiter und weiter ausgedehnt. Man sagt, ein Drittel der Bevölkerung von Rio wohne heute in Favelas.
Da nun gleich hinter unserem Hotel sich eine Favela ausbreitet, steigen wir trotz Warnungen den steilen steinigen Fußweg hinauf in das unabsehbare Elendsviertel aus Kistenbrettern, Wellblech, Kanistern und anderen Baumaterialien. Und werden sogleich von einer großen Schar lachender Jugendlicher freudig umringt; meine blonde Schwester ist sicher von besonderer Attraktivität. Aber mit meinen spanischen Sprachkenntnissen kann ich mich mit diesen Portugiesisch sprechenden Jungen nur relativ schlecht unterhalten. Und eingedenk der Gefahren in diesen oft von Anführern von Drogenkartellen dominierten Vierteln und einer Stimmung in der Menge, die sich plötzlich aus irgendeinem Grund wenden kann, verabschieden wir uns bald wieder, von freundlichem Beifall begleitet. Doch wir seien »crazy« gewesen, da hinaufzusteigen, sagt man uns nachher im Hotel. Später habe ich mich, von dortigen Freunden begleitet, in den Elendsvierteln frei ohne Angst bewegt.
Täglich erinnern mich in meiner Wohnung kleine Souvenirs an die Indio-Kultur : Da stehen in meinem Büchergestell, naturgetreu aus Messing gegossen, Lama, Alpaka und Vikunja, die drei klassischen Kamelarten Südamerikas. Sie erinnern mich an die quicklebendigen Indiokinder auf den Bahnhöfen während der elfstündigen Fahrt durch die weite Hochebene des Altiplano (rund 4000 m ü. M.) von Cusco nach Puno beim Titicacasee. Und da hängt ein kleiner Wandteppich aus Naturleinen, von Indiofrauen in Pisaq geschmackvoll bestickt in Erdfarben: Szenen aus dem Landleben, wie man sie noch heute erleben kann. Noch mehr freut mich das schön geformte und bemalte (vielleicht kultische) Trinkgefäß in der Gestalt eines Puma aus der Tiahuanaco-Kultur (zwischen 600 und 1000 n. Chr.) am Ufer des Titicacasees (selbst wenn es eine Fälschung wäre, hätten sich die vielen Dollars gelohnt). Schließlich eine nur sieben Zentimeter lange vergoldete Nachbildung eines königlichen Bootes (Original im Goldmuseum von Bogotá, der größten Sammlung vorkolumbianischer Goldgegenstände), mit ganz flach gegossenen Figuren, denen drahtartige Gliedmaßen und Schmuck aufgesetzt sind – alles Zeugnis für die schon früh hochentwickelte Technik der Goldverarbeitung.
Unbegreiflich, dass die vorkolumbianischen Kulturen von den spanischen und portugiesischen Conquistadores fast ganz zerstört worden sind! Wenn ich nur an die vielen Kostbarkeiten des Anthropologischen Museums in Mexiko-Stadt denke oder an die imponierende Ruinenstadt der Inkas am Abhang des Machu Picchu, oder an die Maya-Tempel auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán in Chichén Itzá und Uxmal; diese bekomme ich im Februar 1993 auf einer Studienreise zu sehen. Die spanische und portugiesische Conquista unterbrach die Entwicklung der alten indianischen Kulturen und degradierte die Ureinwohner zu Arbeitskräften der sie schamlos ausbeutenden Kolonisatoren. Freilich war die iberische Politik aufgeschlossener als die spätere angelsächsische für die Bildung von Mischkulturen, die zu einer Verschmelzung von europäischen und indianischen Formen in Religion, Musik, Tracht und Kunsthandwerk führte. Dieses indianisch-spanische Kulturerbe ist auf dem Lande immer noch lebendig, unterliegt aber in den riesigen Städten zunehmend einer uniformierenden Einheitskultur.
Doch von einem »encuentro de dos culturas«, einer »Begegnung zweier Kulturen«, sollte man nicht reden. Auch wenn man angesichts der kriegerischen Reiche der Azteken und der Inkas (gerade Letzteres mit despotisch-totalitären Zügen) nicht an den Mythos von den guten, friedlichen, gewaltlosen »Wilden« glaubt und wenn man auch das Auftreten der Spanier und Portugiesen nicht von vornherein nur unter dem Gesichtspunkt einer »schwarzen Legende« beurteilt, so wird man heute
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