Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
als Herausforderung. Zum Problem der Inkulturation des Christentums« gehalten. Dabei habe ich herausgearbeitet, wie in Lateinamerika die spanisch-portugiesische Christianisierung im 15./16. Jahrhundert das mittelalterlich-katholische Paradigma und die englisch-amerikanischen Missionierungen im 17. Jahrhundert das reformatorisch-protestantische Paradigma der einheimischen Bevölkerung aufgezwungen haben: In Reaktion darauf wurde seit dem 18. Jahrhundert das neuzeitlich-aufklärerische Paradigma vor allem unter den Gebildeten verbreitet. Meine große Frage: Warum hat sich bis heute kein ursprünglich indianisches Paradigma des Christentums entwickelt?
Große Unterstützung finde ich für meine Lateinamerika-Studien bei den bedeutenden Geographen unserer Universität, Prof. HERBERT WILHELMY (gest. 2003), der über universale geographische Kenntnisse verfügt, und seinem Nachfolger Prof. GERD KOHLHEPP , der sich besonders mit der Wirtschafts- und Sozialgeographie beschäftigt und als Spezialist für Brasilien auch für internationale Organisationen als Berater tätig ist. Gerne nehme ich, solang es mir zeitlich möglich ist, an der universitären Arbeitsgemeinschaft für Lateinamerika teil, wo mir zahlreiche fundierte Kenntnisse – etwa zum Problem der Armut oder der Überbevölkerung – vermittelt werden. Mit Gerd Kohlhepp unterhalte ich mich bis heute immer wieder gern über die neuesten Entwicklungen auf diesem großen Kontinent.
Trauriges Schicksal der indianischen Kultur
Südamerika – ein Kontinent gewaltiger landschaftlicher, kultureller und sozialer Kontraste ! Schon landschaftlich , wenn ich nur an die außerordentlichen Höhenunterschiede denke, die auch unserem Reisequartett – Marianne Saur, meine Schwester Rita und mein Schwager Bruno – zu schaffen machen. Von Venezuelas Hauptstadt Caracas , unserer ersten Reisestation, fliegen wir 1978 nach Kolumbiens Hauptstadt Bogotá , die auf einer Hochebene 2650 Meter ü. M. liegt. Wir treffen an einem sonnigen Spätnachmittag (25. 10. 1978) dort ein, in recht unbeschwerter Stimmung. Statt klugerweise auszuruhen, beschließen wir, ein Folklorerestaurant zum Abendessen aufzusuchen. Die Höhendifferenz meinen wir, angesichts unserer Ski-Erfahrungen, wo wir uns oft auf 3000 Meter, am Kleinen Matterhorn gar 4000 Meter bewegen, leicht bewältigen zu können.
Aber weit gefehlt! Essen, Wein, Musik mit einer kolumbianischen Tanzgruppe, alles prima. Doch plötzlich ist meinem Schwager Bruno übel. Mein dummer Rat: ein Magenbitter Fernet-Branca. Der hilft nun gar nicht. Bruno will an die frische Luft, taumelt auf dem Weg und fällt. Ein typischer Höhenkollaps mit Bewusstlosigkeit, verursacht durch niederen Luftdruck, geringen Sauerstoffgehalt der Luft und dadurch Sauerstoffverarmung des Blutes. Meine Schwester Rita eilt zu Hilfe, einen Höhentod fürchtend. Aber als Bruno die Augen wieder öffnet, verliert auch sie das Bewusstsein. Beide werden vom Personal an die frische Luft befördert. Zuckerwasser flößt man ihnen ein. Ich begleite sie und sehe plötzlich Marianne von den Kellnern auf einem Stuhl bewusstlos herausgetragen, aber ruhig sitzend wie eine regierende Fürstin. Ich allein bleibe »standfest«. Als unsere Beine uns wieder tragen, gehen wir ruhig ins Hotel zurück und suchen angesichts von Nachwirkungen den Hotelarzt auf. Wir sind jetzt vorgewarnt und auf einer weiteren Reiseetappe vorsichtiger, als wir von der peruanischen Hauptstadt Lima am Pazifik hinauf nach Cusco , der früheren Hauptstadt der Azteken und dem heutigen Zentrum des peruanischen Andenhochlandes (fast 3500 m ü. M.) fliegen. Probleme bekommen wir nicht mehr, fühlen aber auch keinen Ehrgeiz, vom Altiplano aus auch noch die schneebedeckten Kordilleren zu besteigen, die über 6000 Meter hoch sind.
Kontraste landschaftlich, Kontraste aber auch kulturell : Wir brauchen nur aus der modernen Riesenstadt La Paz , der Hauptstadt Boliviens, hinauszufahren in ein Dorf wie Pisaq und dort den Markt zu besuchen, um hier eine ethnisch noch einigermaßen intakte indianische Kultur anzutreffen: von den malerischen Kleidern, verschiedenen Formen von Hüten, vor sich, hinter sich und unter sich Kinder … Verbunden mit den kulturellen schließlich die ungeheuren sozialen Kontraste. Schon in Caracas machen wir die Erfahrung: Zwischen Flughafen und Stadt sieht ein endloser Hang mit kleinen Lichtern in der Nacht romantisch aus, erweist sich aber am Tag als eines der vielen
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