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Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Titel: Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Küng
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Gesellschaft und Befreiung in der Kirche ist mir schon in meiner »theologischen Jugend« eindrücklich zum Bewusstsein gebracht worden durch ein »Lehrstück«, in welchem ich 1952 – gerade mal 24 Jahre alt – eine der Hauptrollen zu spielen hatte. In unserem Collegium Germanicum, von Jesuiten geleitet, mussten wir als Alumnen einer päpstlichen Stiftung zwar alle einen Eid schwören, nicht in die Gesellschaft Jesu einzutreten. Aber natürlich waren wir fasziniert von dem international höchst erfolgreichen Bühnenstück des Österreichers FRITZ HOCHWÄLDER über den Untergang des indianischen Jesuitenstaates in Paraguay: »Das heilige Experiment« (vgl. Bd. 1, Kap. III: Durchbruch zur Gewissensfreiheit). In ihm hatte man mir die Rolle des spanischen Visitators Don Pedro de Miura übertragen, der den königlichen Befehl im Geiste der Staats- und Kirchenräson durchsetzt.
    Mit ungewöhnlich dramatischer Wucht wird hier der Gewissenskonflikt der die Indios schützenden Jesuiten dargestellt, die auf Geheiß des spanischen Königs und des Papstes ihre Enklave sozialer Gerechtigkeit für die Indios den neuen weißen Herren des Landes aus Spanien abtreten sollten. Schon hatten sich die Jesuitenpatres auf den Widerstand geeinigt, da eröffnet dem Provinzial der als Berater des Visitators verkleidete Legat des Ordensgenerals den strikten Befehl, das königliche Dekret durchzuführen und den Indianerstaat aufzugeben. Und es zeichneten sich schon damals in der Kommunität des Germanicums bestimmte Fronten ab, wer für unbedingten Gehorsam und wer für Widerstand des Gewissens war. Pikant zu wissen, dass GEORG ZUR , der die Rolle des verkleideten Legaten des Ordensgenerals spielte, später in der päpstlichen Diplomatie aufsteigt: zuerst als Präsident der Pontificia Academia Ecclesiastica (Diplomatenakademie) und später sogar als Nuntius in Österreich.
    Ich spiele die Rolle des zynischen Visitators mit Verve und wünsche für meinen dramatischen Auftritt als Begleitmusik eine Passage aus Strawinskys »Feuervogel«. Aber innerlich fühle ich mich auf der Seite des Jesuitenprovinzials Fernandez, der am Gewissenskonflikt zwischen Rettung des Indianerstaates und Gehorsam gegenüber Jesuitengeneral und Papst zerbricht. Der Provinzial stirbt, die Anführer der Revolte gegen den Visitator werden erschossen, die Patres deportiert. »Weil ihr recht habt, müsst ihr vernichtet werden!«, das war der zynischste Satz, den ich auszusprechen hatte.
    Wie immer man diesen ganzen Konflikt beurteilt: Die »schwarze Legende« von der spanisch-portugiesischen Eroberung Lateinamerikas kann jedenfalls nicht durch eine »rosa Legende« aufgehoben werden, welche die spanisch-portugiesische Präsenz in Lateinamerika einfach als zivilisatorische Leistung verherrlicht. Es genügt auch nicht, dass Papst und Bischöfe – bezüglich der Indianer ähnlich wie in der Beziehung zu den Juden – verharmlosend einige Irrtümer, Sünden und Fehlentwicklungen zugeben und sie vor allem dem Staat zuschieben. Es genügt auch nicht, sich für die Kirche auf die wenigen zu berufen, welche sich selbstlos wie ANTONIO DE MONTESINOS und BARTOLOMÉ DE LAS CASAS , beide Dominikaner, schon damals in Lateinamerika wie in Spanien für die Rechte der Indianer und gewaltlose Mission eingesetzt haben, aber auf massiven Widerstand von Staat und Kirche stießen, wie man weiß. All die relativ autonomen »Missionen« und »Reduktionen« – sie existieren bald nicht mehr. Und der spätere Bischof Las Casas ist in Spanien und Lateinamerika bis heute umstritten, weil sein »Kurzgefasster Bericht von der Verwüstung der westindischen Länder« von 1542 wider Willen zum »antispanischen Geschichtsbild« der »schwarzen Legende« Anlass gegeben habe. Dabei schreibt er, dass die Deutschen in Venezuela noch grausamer gewütet hätten als andere Kolonisatoren.
    Nein, angesichts des Rückgangs der Urbevölkerung Mexikos von 25 Millionen auf eine Million innerhalb eines Jahrhunderts und ganz ähnlicher Entwicklungen in ganz Lateinamerika, wo heute noch etwa 10 Prozent der Einwohner Indios sind (in Mexiko und Guatemala, in den Anden und im Amazonasbecken), wird man dem Historiker TZVETAN TODOROV kaum widersprechen können, wenn er schreibt: »Wenn das Wort Völkermord jemals wirklich zutreffend verwandt worden ist, dann zweifellos in diesem Fall. Es handelt sich dabei … nicht nur in relativen Zahlen (Vernichtung in einer Größenordnung von 90 Prozent und mehr) um einen Rekord,

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