Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
sich später fort: Während meines Semesters an der Rice University in Houston/Texas besuche ich 1987 in der Folge mehrere Orte in Zentralamerika: Im zu 90 Prozent katholischen San Salvador , Hauptstadt von El Salvador, der am dichtesten bevölkerten Republik Zentralamerikas (rund sechs Millionen Einwohner), gehe ich in Begleitung des verantwortlichen Seelsorgers, des Jesuitenpaters DANIEL SANCHEZ , hinab an den Fluss der armen Leute, in das Elendsviertel La Chacra (etwa 20.000 Menschen), um dort mit einer großen Gemeinde begeistert betender und singender Männer und Frauen, Jungen und Alten, den Gottesdienst zu feiern. Ich fahre auch hinaus aufs Land in eine andere »iglesia popular«, Volkskirche, die sich in der freien Natur versammelt.
Ich habe schon erzählt, wie ich von Anfang an Sympathie hatte für die lateinamerikanische Befreiungstheologie, wie sie auf dem Internationalen Theologischen Kongress 1970, von unserer Zeitschrift »Concilium« organisiert, durch ihren Hauptinspirator, den Peruaner GUSTAVO GUTIÉRREZ, überzeugend und mit großem Beifall vertreten worden war (vgl. Bd. 2, Kap. X: Die Theologie der Befreiung). Wir werden Freunde. Und wenn ich auch meine Ablehnung marxistischer Lösungen (bei aller Anerkennung marxistischer Analysen der Gesellschaft) deutlich zum Ausdruck bringe und auch mehr Einsatz für Befreiung innerhalb der katholischen Kirche anmahne, so bestand und besteht für mich doch kein Zweifel, dass ein Einsatz für Befreiung anderer auch in der katholischen Kirche notwendig ist. Wir sollten uns einsetzen – gegen grausame politisch-soziale Systeme – für ausgebeutete Bevölkerungsschichten, verachtete und bedrohte Kulturen und besonders diskriminierte Völker, darunter vor allem die Indios. Dies versuchte in seinem Heimatland Haiti der Befreiungstheologe JEAN-BERNARD ARISTIDE , der mich am 28. Juni 1990 in Tübingen besucht, aber nachher als gewählter Staatspräsident (1994 – 96) leider politisch versagt.
Mitten in meiner Konfrontation mit dem Vatikan um meine kirchliche Lehrbefugnis wird am 24. März 1980 der Erzbischof von San Salvador, OSCAR ROMERO, der sich vom traditionell gesinnten Bischof zum Vorkämpfer der Befreiung in Lateinamerika bekehrt hatte, direkt aus einem Auto durch die Kirchentür hindurch erschossen, während er am Altar steht. So wenig wie mein anderer Freund aus der Konzilszeit, der charismatische, sozial eingestellte brasilianische Erzbischof HELDER CAMARA, hatte Romero von Rom die nötige Unterstützung erhalten. Kinderschänder und deren Protektoren sowie andere Parteigänger werden von Papst Wojtyła zu Kardinälen gemacht und als solche im Kirchenamt gehalten, während man selbst ideologiefreie Befreiungstheologen als »Kommunistenfreunde« denunzieren darf. Bei unseren Dreharbeiten zur »Spurensuche« stehe ich an Romeros nüchternem Grab in der Unterkirche der Kathedrale von San Salvador und stelle später fest, wie jeder Märtyrerkult von vornherein verhindert werden sollte. Prompt wird denn auch bei den massenhaften Selig- und Heiligsprechungen des polnischen Papstes dieser echte Märtyrer nicht berücksichtigt. Schon allein der jahrelange Kampf von Wojtyła und Ratzinger gegen die Befreiungstheologie und die »iglesia popular« desavouiert jede Heiligsprechung dieser Päpste. Dafür habe ich in meiner Filmreihe »Spurensuche« den Film über das Christentum mit einer Sequenz über das Elendsviertel »La Chacra« und meinem Statement am Ort der Ermordung von Erzbischof Romero beginnen lassen. Unter dem neuen Papst Franziskus, so berichtet der Vatikan, wird der Seligsprechungsprozess von Bischof Romero erfreulicherweise wiederaufgenommen.
Völlig zutreffend ist die Analyse des bis heute kämpferischen brasilianischen Befreiungstheologen, meines Freundes LEONARDO BOFF im Jahr 2012: »Während seiner Zeit als Leiter der Glaubenskongregation hat Ratzinger mehr als hundert Theologen verurteilt. Und als Papst wurde die Bewegung für ihn erst recht eine Obsession. Er hat fast alle Bastionen der Befreiungstheologie geschleift und nur Konservative seiner Denkschule in wichtigen Positionen verankert. Aber wir Befreiungstheologen haben eher gewonnen als verloren. Doch die Befreiungstheologie hat tief in die Politik und das Leben der Menschen hineingewirkt …« 4
Angesichts der Unbußfertigkeit der römisch-katholischen Kirche ist es kein Wunder, dass die revolutionären Kräfte und auch viele Indios sich von der katholischen Kirche
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