Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
abwenden. Ein spektakulärer Akt findet schon1985 beim Besuch von Papst JOHANNES PAUL II. in den bolivianischen Anden statt: MÁXIMO FLORES von der Indianerbewegung Kollasuyo, EMMO VALERINO von der Indianerpartei der Aymaras und RAMIRO RAYNAGA von der Indianerbewegung Túpac Katari, einem Stamm der Quechuas, übergeben dem Papst einen Brief. Darin schreiben sie: »Wir Indianer der Anden und Amerikas haben beschlossen, dass wir Ihnen anlässlich Ihres Besuchs Ihre Bibel zurückgeben. Denn im Laufe von fünf Jahrhunderten hat sie uns weder Liebe noch Frieden, noch Gerechtigkeit gebracht. Nehmen Sie also bitte die Bibel wieder und geben sie diese unsern Unterdrückern zurück. Jene brauchen die darin enthaltenen Moralvorschriften mehr als wir. Denn seit Christoph Kolumbus hier gelandet ist, hat man uns eine Kultur, eine Sprache, eine Religion und eine Rangordnung von Werten aufgezwungen, die allesamt europäisch sind« (mitgeteilt von Leonardo Boff).
Die Nachkommen der Mayas, Azteken und Inkas bilden ja in Guatemala, Kolumbien und Bolivien noch immer die Bevölkerungsmehrheit. Und so ist es kein Zufall, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts zum ersten Mal in der Geschichte dieses Kontinents in freier demokratischer Wahl ein Indio zum Präsidenten eines Landes gewählt wurde: EVO MORALES AYMA in Bolivien. Doch die Zukunft Boliviens und des ganzen südamerikanischen Kontinents bleibt ungewiss. Ob der im März 2013 gewählte erste lateinamerikanische Papst JORGE MARIO BERGOGLIO eine Wende bringen wird? Sein erster Besuch als Papst Franziskus in seinem Heimatkontinent soll jedenfalls ohne den üblichen Pomp erfolgen und besonders auch den Armen in den Favelas zugute kommen.
Szenenwechsel.
VIII. Meine Welt der Religionen Indiens
»Das Eins-Seiende benennen die Dichter vielfach«
Rigveda I, 164,46
Es gibt wohl kaum einen Ort in Indien, an dem man Religiosität so intensiv erlebt wie in der heiligen Stadt Varanasi/Benares, der Stadt des Gottes Shiva. Tagsüber drängen sich hier Tausende von Männern und Frauen an den Ghats, den berühmten Badetreppen, um ein reinigendes Bad im heiligen Fluss Ganges zu nehmen. Aber besonders beeindruckt hat mich dieser Ort bei Nacht, wenn dort oft bis zu 50 Leichen eingeäschert werden. Denn in dieser heiligen Stadt wird nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben zelebriert. An den Ganges kommen ungezählte Inder, um die Asche ihrer Verwandten in den Fluss zu streuen, aber auch Tausende, um dort zu sterben, am Manikarnika-Ghat ihren Leib den Flammen anzuvertrauen, damit die Seele, aus dem Körper befreit, ihren Weg zu einer neuen Wiederverkörperung antreten kann.
Der Umgang mit Verstorbenen
Manche Fremde mag der selbstverständliche Umgang der Hindus mit ihren Verstorbenen verwundern, manchen die nachts unter freiem Himmel vollzogene Verbrennungszeremonie düster und schaurig vorkommen. Interessiert beobachte ich die Angehörigen, in farbige Tücher gehüllt die Frauen, in weiße die Männer. Für sie muss es durchaus trostreich sein, hier den zuvor zur Reinigung in das schwarz glitzernde Wasser des Ganges getauchten und dann auf den Scheiterhaufen gelegten Leichnam zuerst umrunden zu dürfen und mitzuerleben, wenn schließlich der Ehepartner oder der älteste Sohn den Holzstoß entzündet. Warum dies alles gerade in Varanasi? Weil es hier Gott Shiva selber sein soll, der den Sterbenden ein Mantra, ein erlösendes Wort, ins Ohr flüstert, damit sie direkt die endgültige Befreiung erlangen – also ohne weitere Wiedergeburt!
In der Einstellung zu Leben und Sterben unterscheiden sich Menschen in den prophetischen Religionen von denen in den Religionen Indiens fundamental: Für Juden, Christen und Muslime spielt sich das Leben linear ab, auf einer Linie von der Wiege bis zur Bahre, und in diesem einen und einzigen irdischen Leben entscheidet sich alles – im Blick auf ein ewiges himmlisches Leben. Für Hindus, aber auch für Buddhisten und Jains, Angehörige der beiden indischen Reformreligionen, gilt der Glaube nicht nur an den ewigen Kreislauf der Natur, sondern auch an die zyklische Wiederverkörperung des Verstorbenen, an die »Seelenwanderung«. Doch begegne ich auch immer wieder Nicht-Indern, auf die sie eine Faszination ausübt, wobei diese freilich oft übersehen, dass Hindus ja nicht an einen simplen ewigen Kreislauf glauben, sondern auf eine spiralförmige Entwicklung zu immer besseren Wiederverkörperungen hoffen, um am Ende »Moksha«, Befreiung, Erlösung, zu
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