Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Sympathie füreinander. Als wir uns einige Zeit später wiedersehen anlässlich eines politischen Symposions in Prag, eingeladen von Staatspräsident VÁCLAV HAVEL , begrüßt mich Kissinger lächelnd mit den Worten: »Will you give me hell again?« (»Wollen Sie mir wieder die Hölle heißmachen?«) Meine ebenfalls lächelnde Antwort: »Perhaps you need it« (»Vielleicht brauchen Sie es«). Gute persönliche Beziehungen trotz ernsthafter politischer Differenzen. Am 11. 3. 2009 beim großen Bankett anlässlich des 90. Geburtstages von Altbundeskanzler Helmut Schmidt, abermals im Schloss Bellevue, unterhalten wir uns wieder längere Zeit über die gegenwärtigen weltpolitischen und weltethischen Fragen, besonders auch über Papst und Vatikan. Und Kissinger lädt mich ein, ihn bei meinem Aufenthalt in New York zu besuchen.
Weder »Realpolitik« noch bloße Gesinnungsethik: Jimmy Carter
Meine persönliche Position sehe ich zwischen einer rücksichtslosen Realpolitik und einer moralisierenden Gesinnungsethik. Ungeeignet für eine bessere Weltordnung erscheint mir die bloße Erfolgsethik von Realpolitikern, für die der politische Zweck alle Mittel, auch unmoralische wie Lug, Betrug, Verrat, Folter, politischen Mord und Krieg, »heiligt«. Untauglich erscheint mir auch die bloße Gesinnungsethik von Idealpolitikern, für die eine rein moralische Motivation und der gute Zweck ausreichen, die sich aber um reale Machtverhältnisse, konkrete Durchsetzbarkeit und um mögliche negative Folgen allzu wenig Gedanken machen.
Tauglich für eine bessere Weltordnung erscheint mir nur ein Ethos der Verantwortung . Dies setzt Gesinnung voraus, fragt aber realistisch nach den voraussehbaren, besonders auch negativen Folgen einer bestimmten Politik und übernimmt dafür auch die Verantwortung. Die Kunst der Politik im nachmodernen Paradigma besteht darin, das politische Kalkül (der modernen Realpolitik) und das ethische Urteil (der Idealpolitik) überzeugend zu verbinden, immer neu miteinander abzuwägen und immer wieder neu zu suchen.
Mein Mittelweg der verantworteten Vernunft wendet sich gegen einen unverantwortlichen Machiavellismus und Libertinismus (exemplarisch der frühere italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi), der in Politik wie persönlichem Leben meint, auf alle ethischen Grundsätze, Maßstäbe und Maximen verzichten zu können, der sich einfach an der gerade gegebenen und natürlich immer wieder wechselnden Situation orientiert und seine Entscheidung nur auf den anstehenden Fall ausrichtet, rein aus dem gegenwärtigen Moment und einem kurzfristigen Vorteilskalkül heraus.
Aber ich wende mich auch gegen einen unvernünftigen Dogmatismus und Moralismus , der sich in Politik wie persönlichem Leben, unbekümmert um die betreffende Situation, unflexibel einfach an den Buchstaben des angeblich göttlichen Gesetzes halten will (Exempel liefern die Restaurationspäpste Wojtyła und Ratzinger). Kirchenpolitische Grundsätze, kirchenrechtliche Maßstäbe und früher vielleicht sinnvolle Maximen – bezüglich Empfängnisverhütung, Kondomgebrauch und Bevölkerungspolitik bis hin zu Abtreibung und Sterbehilfe – wurden zu unfehlbaren, ausnahmslosen, in jeder Situation bedingungslos geltenden kirchlichen Gesetzesparagraphen.
Ein gewisser Gegenpol zum Realpolitiker Henry Kissinger ist für mich persönlich US-Präsident und Friedensnobelpreisträger (2002) JIMMY CARTER , den ich nicht als einen Idealpolitiker, wohl aber als einen ethisch motivierten und realistischen Politiker bezeichnen würde. Er wird, als Kontrastfigur zu Nixon und Ford, wegen einer gerechten und friedlichen Vision von Politik gewählt. Bei seinem Amtsantritt 1977 betont Carter denn auch die Notwendigkeit einer ethischen Fundierung der Innen- wie der Außenpolitik und engagiert sich von Anfang an für die Einhaltung der Menschenrechte. Dass er bei all seiner ethischen Motivation durchaus Realist blieb, zeigen bedeutende Erfolge: vor allem das Camp-David-Abkommen zwischen Israel und Ägypten, von dem schon die Rede war (Kap. VI: Der tragische Konflikt), dann der Panamakanal-Vertrag, der Salt-II-Vertrag und die Ablösung vieler lateinamerikanischer Militärdiktaturen durch demokratische Regime. So frage ich mich wie viele Amerikaner heute, ob eine zweite Präsidentschaft Carters den USA nicht Reagans Überrüstung und ein gigantisches Defizit erspart hätte – ein ständiges Handicap für die amerikanische Innen- wie Außenpolitik bis heute
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