Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Bundeskanzlerin ANGELA MERKEL gefunden. Mit ihr führe ich am 3. Juni 2000 eine anderthalbstündige Diskussion über »Weltethos – Weltfrieden« vor großem Publikum auf dem Deutschen Katholikentag in Hamburg. Einleitend gratuliere ich ihr zum beispielhaften Mut, den sie bewiesen hat, die CDU aus der Krise herauszuführen, in die sie unter Kanzler Helmut Kohl geraten war. Wir diskutieren über das Christliche in der deutschen Gesellschaft und in der CDU, über die globale ökosoziale Marktwirtschaft, über christliche Werte und den Islam … Für sie ist das Christliche, das sich besonders in der Betonung der Menschenwürde und Menschenrechte eines jedes Menschen ausdrückt, wichtig für den inneren Kompass, den sie gerade in der Politik braucht. Und so wünsche ich ihr denn nach einer inhaltsreichen freundlichen Diskussion und Beantwortung einiger Fragen aus dem Publikum, sie möge sich den inneren Kompass bewahren und nicht den Meinungsumfragen nachjagen.
Anschließend habe ich mit ihr ein privates Mittagessen, von dem mir zwei Bemerkungen von ihr besonders in Erinnerung geblieben sind. Zum einen: Als öffentliche Person müsse sie nun auf Schritt und Tritt ihre Körperhaltung und Mimik unter Kontrolle halten, da sie ständig fotografiert werde. Zum anderen: Sie kenne sich bereits in vielen Bereichen gut aus, besonders in denen, die sie als Ministerin betreut hatte; aber nun würde sie sich systematisch in die anderen Bereiche einarbeiten – was sie auch getan hat.
13 Jahre später muss ich differenzieren: Gegen manche ihrer Entscheidungen als Bundeskanzlerin besonders in der Europa- und Finanzpolitik mag man berechtigte Zweifel anmelden. Ihre Glaubwürdigkeit aber, die auf ihrer persönlichen Integrität beruht, wurde zu Recht lange durch hohe Zustimmungswerte bestätigt. Leider hat ihre Glaubwürdigkeit besonders aufgrund ihres Verhaltens im NSA-Ausspähskandal 2013 stark gelitten.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends ist mir oft Gelegenheit gegeben, mich zur Thematik »Weltethos – Weltpolitik« und zum neuen Paradigma internationaler Beziehungen zu verbreiten, wobei ich aus zahllosen informativen Gesprächen mit Politikern, Diplomaten und Politologen sehr viel lernen konnte. In der Anmerkung beschränke ich mich auf Beispiele aus den ersten drei Jahren des neuen Jahrtausends. 14
Doch Szenenwechsel: Gleichzeitig mit der weltpolitischen Dimension des Weltethos habe ich mich auch ständig mit der weltwirtschaftlichen zu beschäftigen.
Weltethos für Weltwirtschaft: Horst Köhler – Richard Grasso
Am 14. März 1997 halte ich in Berlin bei einem hochkarätigen Symposion der Dräger-Stiftung vor Politikern und Wirtschaftsvertretern ein Referat über die ethische Dimension der Globalisierung . Ich vertrete die These, dass der globale Markt eine globale rechtliche Rahmenordnung und diese Rahmenordnung ein globales Ethos erfordert. Unumgänglich erscheint mir der Umbau des aufgeblähten Sozialstaates. Andererseits unverantwortlich die Rückkehr zur kapitalistischen Marktwirtschaft. Ausdrücklich erhebe ich angesichts der »gefährdeten Stabilität des Weltfinanzsystems« die Forderung nach einer »Rahmenordnung des globalen Finanzsystems« und insistiere auf der Einhaltung bestimmter ethischer Standards im Sinne des Weltethos.
Eine sehr engagierte Diskussion folgt. In angenehmer Erinnerung bleibt mir die freundliche Apologie des früheren amerikanischen Finanzministers MICHAEL BL u MENTHAL . Er verteidigt das amerikanische Bankwesen, das ich ja keineswegs total verurteilt hatte. Emotional aber ist die Intervention des Vorstandsvorsitzenden der Debis (Daimler-Chrysler Services), KLAUS MANGOLD . Es war mir schon während meines Referates aufgefallen, wie er am anderen Ende des großen Vierecks mit hochrotem Kopf angestrengt meinen Ausführungen gefolgt war. Offenkundig ist er von meiner strengen Forderung nach Einhaltung bestimmter ethischer Standards überrascht und fordert dazu auf, die Interessen der Wirtschaft ernst zu nehmen. Aber schließlich meldet sich HORST KÖHLER , damals Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, und erklärt mit Verve, dass sich meine Rede nicht gegen die Wirtschaft wende, wohl aber für die Beachtung ethischer Regeln plädiere. Damit überzeugt er das Publikum und entscheidet die Debatte faktisch zu meinen Gunsten.
Im Anschluss an die Konferenz haben wir noch ein Stück gemeinsamen Weges, und Köhler ermutigt mich nachdrücklich: Ich sei auf dem richtigen Weg und
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