Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Judentums, Christentums, Islams und der östlichen Religionen, die sozusagen als Wegbereiter eines Weltethos einen Beitrag geschrieben haben zu dem von mir herausgegebenen Buch » Ja zum Weltethos . Perspektiven für die Suche nach Orientierung« (München 1995). Ich hatte die Freude, die meisten von ihnen persönlich kennenzulernen. 13
Weltethos für Weltpolitik: Henry Kissinger
Es war für mich eine brenzlige Situation: Am 17. März 1997 bin ich von Bundespräsident ROMAN HERZOG zu einem offiziellen Essen im kleinen Kreis im Schloss Bellevue, dem Sitz des Bundespräsidenten in Berlin, eingeladen. Erst dort erfahre ich: Als Ehrengast präsent ist der frühere Sicherheitsberater und Außenminister der USA, HENRY KISSINGER , der die Außenpolitik unter den Präsidenten Nixon und Ford entscheidend geprägt hatte. Ich hatte wenige Tage zuvor mein Buch »Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft« veröffentlicht, dessen erstes Kapitel »Weltpolitik im alten Stil« ausgerechnet Henry Kissinger gewidmet ist. Es handelt sich um eine mit vielen Fakten belegte Kritik an dem Autor des drei Jahre zuvor erschienenen, annähernd 1000-seitigen Meisterwerks »Diplomacy« (1994). Ich sehe darin Henry Kissinger im historischen Zusammenhang mit den machiavellistischen Machtpolitikern vom Schlage Richelieus, Metternichs, Palmerstons und Bismarcks, als »realistischen« Vertreter der »nationalen Interessen« der USA, einen Politiker, für den »Macht« nach eigenen Worten »das stärkste Aphrodisiakum« darstellt.
Doch da sitze ich nun in der Klemme: Soll ich den mir schräg gegenüber sitzenden Kissinger auf meine Kritik ansprechen und möglicherweise einen bei diesem Staatsbankett unerwünschten Disput provozieren? Oder aber schweigen und nachträglich als Feigling erscheinen? Das kommt nicht infrage. Die Unterhaltung über die aktuelle politische Lage mit dem durch scharfen Intellekt und Humor ausgezeichneten Ehrengast verläuft bestens. Ich warte ab bis zum Dessert: »Ich muss Ihnen gestehen, lieber Herr Kissinger, dass ich vor wenigen Tagen ein Buch mit einem kritischen Kapitel über Sie und Ihre Politik veröffentlicht habe.«
Kissinger fragt freundlich, worauf sich denn meine Kritik beziehe. Selbstverständlich stelle ich nicht des Staatsmannes Kissingers größtes Verdienst infrage, angesichts der erstarrten ideologischen Fronten des Kalten Krieges eine intellektuelle Neuorientierung der amerikanischen Außenpolitik erreicht zu haben: Entspannung mit der Sowjetunion durch Rüstungskontrolle und Viermächteabkommen über Berlin, Öffnung der USA gegenüber China, diplomatische Vermittlung zwischen Israel und den Arabern während und nach dem Jom-Kippur-Krieg und Truppenentflechtungsabkommen zwischen Israel und Ägypten sowie Syrien. Aber ich kritisiere Kissingers Auffassung, dass Außenpolitik nicht dieselben moralischen Maßstäbe wie die persönliche Ethik reflektieren solle: dass der Staat und der Staatsmann ein Recht hätten, eine besondere Moralität für sich zu beanspruchen. Für Staaten und seine Repräsentanten müssten doch im Prinzip die gleichen ethischen Ansprüche gelten wie für Individuen und nicht eine machiavellistische Staatsräson.
Kissinger wollte nicht wahrhaben, dass mit dieser Haltung dem Staatsmann alle Operationen ohne moralische Grenzen erlaubt werden. Natürlich wollte ich ihn nicht am Tisch mit seinen fragwürdigen politischen Operationen konfrontieren – ich denke etwa an seine Rolle beim Sturz der Allende-Regierung in Chile und der Etablierung der gewalttätigen Militärdiktatur General Pinochets mit rund 30.000 vermissten Opfern. Oder ich denke an die brutale Kriegsführung in Indochina und die Verzögerung des Friedensschlusses in Vietnam mit Bombardierungen an Weihnachten 1972. Soll alles dies dem Staatsmann gestattet sein? … Ich nehme ihm seine Antwort nicht ab, dass ich als Theologe die Weltpolitik sozusagen »von oben«, also idealistisch betrachte, er aber »von unten«, vom Alltagsgeschäft her, also realistisch. Bemühe ich mich doch ständig um die genaue Kenntnis der politischen Realitäten und halte mich für einen »idealistischen Realisten«, der für moralisch verantwortbare politische Lösungen eintritt.
Beim anschließenden Kaffee im Stehen kommt Kissinger sofort auf mich zu und sagt mir, er habe nichts einzuwenden gegen meine Kritik, wenn sie fair sei. Ich antworte ihm, dass meine Kritik fair und gut begründet sei. Wir spüren jedenfalls großen Respekt und
Weitere Kostenlose Bücher