Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Traditionslinien der großen Religionen und Philosophien findet und heutzutage sowohl von glaubenden wie nichtglaubenden Menschen mitgetragen werden kann und soll.
Bei meinen ersten Überlegungen zu einem solchen Kompositionsprojekt wurde bald klar: Es geht in erster Linie um Vertonung von Originaltexten aus den bedeutenden Überlieferungen, die Zeugen eines bereits bestehenden Menschheitsethos sind, wie es sich in kulturübergreifenden ethischen Werten, Maßstäben und Haltungen manifestiert. So entstehen aus meiner Feder das Gesamtkonzept der sechs Sätze, die einführenden Rezitative des Sprechers und der jeden Satz abschließende Refrain des Kinderchors. Alles in allem also der Versuch einer Klangvision für einen globalen Bewusstseinswandel.
Was für ein inhaltliches Konzept wäre da zu entwickeln? Meine Idee war, jeweils eines der sechs Prinzipien und Grundwerte des Weltethos – Menschlichkeit, Gegenseitigkeit, Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Partnerschaft – in Verbindung zu bringen mit einer der sechs großen religiösen Traditionen der Menschheit: mit chinesischer, hinduistischer, buddhistischer, jüdischer, christlicher und muslimischer Tradition. Diese Grundwerte sollen freilich nicht exklusiv einer Religion zugeschrieben, vielmehr affirmativ als ein besonderes Charakteristikum ausgedrückt werden durch ein Schlüsselzitat aus dieser Tradition und durch ein hinführendes Rezitativ.
Ich habe allerdings allergrößte Mühe, einen kompetenten Komponisten für dieses ausnehmend schwierige Werk – für großes Orchester, Chor und Kinderchor – zu finden. Wiewohl gut beraten von ALOIS KOCH, Rektor der Musikhochschule Luzern, gelingt mir dies im deutschen Sprachraum nicht, aber schließlich doch in Großbritannien, in der Person des renommierten Komponisten JONATHAN HARVEY , der sich ausgewiesen hatte durch hervorragende Kenntnis und Sensibilität für die Musik der Hochkulturen.
Auf Harvey werde ich aufmerksam durch die Berliner Philharmoniker und ihre damalige Intendantin PAMELA ROSENBERG und den Chefdirigenten SIR SIMON RATTLE . Finanziell ermöglicht wird der große Kompositionsauftrag im Dienst der Völkerverständigung durch die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) der Schweizerischen Eidgenossenschaft unter ihrem damaligen Direktor WALTER FUST . Die musikalisch anspruchsvolle, hochmoderne Chorsymphonie » Weltethos « – ich nehme mit Stephan Schlensog während fünf Tagen in Berlin an den Proben teil – gelangt schließlich am 13. Oktober 2011 zur großartigen Welturaufführung durch die Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle, dem Rundfunkchor Berlin mit SIMON HALSEY und den Kinderchören des Georg-Friedrich-Händel Gymnasiums sowie DALE DUESING als Sprecher (Zweitaufführung 15. Oktober). Anwesend sind auch die schweizerische Bundespräsidentin MICHELINE CALMY-REY und der deutsche Bundespräsident CHRISTIAN WULFF . Nicht weniger eindrucksvoll aufgeführt wird das Werk in englischer Fassung vom City of Birmingham Symphony Orchestra unter der Leitung von EDWARD GARDNER am 21. Juni 2012 in Birmingham zur Eröffnung der britischen Kulturolympiade sowie am 7. Oktober 2012 in der Royal Festival Hall in London. Auf englischen Wunsch ist der deutsche Titel »Weltethos« (weil ebenso leicht verständlich wie die deutschen Lehnwörter »Weltanschauung« oder »Weltschmerz«) in der englischen Partitur übernommen worden. 9
Leider kann der sympathische Komponist JONATHAN HARVEY an keiner der Aufführungen teilnehmen. Er war schon gegen Ende der Kompositionszeit von einer unheilbaren degenerativen Nervenlähmung befallen worden, kann aber die Aufführungen am Radio und Internet verfolgen. Ich gratuliere ihm lebhaft zusammen mit Simon Rattle telefonisch. Schon am 4. Dezember 2012 stirbt Jonathan Harvey im Alter von 73 Jahren.
Ein halbes Jahr später habe ich ein anderes und doch ähnlich ergreifendes Musikerlebnis: am 22. Juni 2013 in einer Fernsehübertragung live von der riesigen Berliner Waldbühne eine hinreißende Aufführung von Beethovens 9. Symphonie wiederum mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern sowie dem Berliner Rundfunkchor unter Simon Halsey. Alles erstklassig, es packt mich richtiggehend: nicht nur exakt dieselben Ausführenden wie bei »Weltethos«, sondern im Grunde auch dieselbe Thematik! Begeistert singt Simon Rattle mit (und ich auch), als die Symphonie kulminiert in Schillers und Beethovens Hymne »An die Freude«: »Alle
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