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Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Titel: Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Küng
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ob er denn keine lebensverlängernden Mittel mehr wünsche, verneint er sehr entschieden. Als ich dann zu ihm komme, sagt er auch nach wiederholter Rückfrage immer dasselbe: »Ich werde heute sterben.« Und er lehnt entschieden mit Wort und Gestik die Medikamente ab. Unter uns Theologen und Christenmenschen, sage ich schließlich, sei es ohne viele Worte klar, dass es angesichts des Todes jetzt nicht mehr auf unsere Werke ankäme, auch nicht die theologischen, erfreulicherweise aber auch nicht auf unsere Verfehlungen. Wir dürften uns begnügen mit dem Satz des Zöllners aus dem Evangelium: »Gott, sei mir armem Sünder gnädig!«
    Ich sehe, wie dankbar und froh er ist für meinen Zuspruch, dann auch für die Absolution in der üblichen Form, das Bruder-Klaus-Gebet (»Nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen Dir«) und schließlich den Segen auf Stirn, Mund und Brust. Er dankt für das, was er eine »schöne Feier« nennt. Er muss dann zwar gegen seinen Willen noch fünf Tage auf den Tod warten. Aber am Donnerstag, dem 23.   August 2001 – wenige Stunden nachdem ich ihm nochmals versprochen habe, mich für seine Stiftung, um die er sich Sorgen macht, weiterhin einzusetzen – schläft er friedlich ein. Die Beerdigung findet am 27. August in der Hofkirche Luzern statt. Seine letzte Ruhestätte findet er in deren Garten, wo auch Hans Urs von Balthasar und andere Luzerner Berühmtheiten begraben sind.
    Noch am selben Tag muss ich um 14 Uhr am Flughafen Zürich/Kloten sein für einen Flug nach Salzburg. Ich bin von der österreichischen Außenministerin BENITA FERRERO-WALDNER zu einem Candle-Light-Dinner und einem Symposion mit KOFI ANNAN auf Schloss Fuschl eingeladen. Es findet am folgenden Tag in einem auserwählten Kreis statt. Kofi Annan ändert unmittelbar vor dem Essen die Tischordnung und bittet mich, mich an seine Seite zu setzen.
    Der Hintergrund: mein Einsatz für eine Vision eines Friedens unter den Religionen als eine Voraussetzung für den Frieden der Nationen. Diese Vision hat sich seit 1980 in meiner neuen Freiheit herausgebildet.

II. Eine realistische Vision
    »Spero unitatem ecclesiarum
    Spero pacem religionum
    Spero communitatem nationum«
    »Wer Visionen hat, soll zum Psychiater gehen!«Ein bekanntes bissiges Wort des deutschen Bundeskanzlers HELMUT SCHMIDT (1974   –   82), gemünzt auf entrüstungsbereite Weltenretter und Moralprediger. Selbstverständlich meine ich mit »Vision« (lat.: visio = das Schauen) – in der Psychiatrie tatsächlich für Halluzination gebraucht – nicht die Erscheinung unsichtbarer Objekte (Gott, Engel, Verstorbene …), wie sie mystische Visionäre haben. Auch nicht die Sozialutopie, das Nirgendwo (griech.: ou = nicht, topos = Ort) einer idealen sozialistischen Zukunftsgesellschaft, wie sie von der Sowjetunion enttäuschte Spätmarxisten pflegen. Allzu einfach ist es, die schlechte Situation der Gegenwart zu beschreiben und ihr dann eine nirgendwo existierende gute Welt entgegenzustellen. Doch mit visionslosen politischen oder pastoralen Konzepten und hilflosen strukturellen Scheinlösungen ist uns auch nicht geholfen. So wenig wie Helmut Schmidt liebe ich schwärmerische Zukunftsvorstellungen ohne realen Bezug zur Gegenwart, klug ausgedachte, aber praktisch undurchführbare Pläne, hehre Ideen ohne Erdung. Trotz allem erscheint es mir (und ihm, wie ich ihn später kennenlernte) gerade in der heutigen Zeit wichtig, eine in der Gegenwart angelegte realistische, und das heißt eine argumentativ begründete Vision oder Gesamtschau zu haben. Sie könnten in unserem post-utopischen Zeitalter auch Führungskräften in Politik, Wirtschaft und Kultur eine Grundorientierung bieten für die Gegenwart im Blick auf eine ungewisse Zukunft.
    Mir geht es jetzt, in meiner ersten fakultätsunabhängigen Vorlesungsreihe des Studium generale im Wintersemester 1980/81, um eine entschiedene Horizonterweiterung: von der christlichen Ökumene über die Ökumene der Religionen zur Weltökumene. Doch sicher: auch eine solche universale Vision ist immer standortbestimmt.
    Eine Standortbestimmung
    Wenn ich auf der nach zwei Seiten offenen Terrasse des kleinen Hauses in meiner Schweizer Heimat arbeite, dann habe ich bei günstigem Wetter eine wunderbare »Gesamtschau«, ein »Panorama«, einen »Rundblick«: auf den je nach Lichtverhältnissen immer wieder anders sich zeigenden Sempachersee unmittelbar vor mir, dahinter die majestätische zentralschweizerische Alpenkette zwischen

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