Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Rigi und Pilatus und dem immer schneebedeckten Titlis. Rechts und links vom See und hinter mir sanfte grüne Hügel – Seiten- und Endmoränen des früheren Reussgletschers – mit wenigen Dörfern und Kirchtürmen. Ein Anblick, an dem ich mich nicht sattsehen kann. Diesen meinen Standort finde ich einzigartig, aber ich will nicht übertreiben. Denn auch andere Standorte gibt es, die eine ähnlich schöne Sicht auf dieselbe See-, Hügel- und Alpenlandschaft freigeben.
So will ich denn auch meinen geistigen Standort nicht verabsolutieren. Dieselbe Vision, die sich mir eröffnet, kann, ja soll sich auch anderen eröffnen, mögen sie auch in einer anderen Kirche, einer anderen Kultur oder Religion beheimatet sein. Glücklicherweise sind die drei großen christlichen Konfessionen nicht durch Abgrundtiefen voneinander getrennt, wie die drei Kirchtürme an unserem See suggerieren könnten. Glücklicherweise stehen auch die Weltreligionen und die großen Kulturen nicht so unbeweglich und versteinert nebeneinander, dass man sie mit verschiedenen Bergmassiven oder Gipfeln vergleichen könnte. Später werde ich sie vielmehr als Stromsysteme verstehen, die durch die Länder und Zeiten fließen und zu ihrer geistigen Erfassung eines neuen wissenschaftlichen Instrumentariums bedürfen.
Was also ist jetzt – als fakultätsunabhängiger Professor genieße ich eine einzigartige Freiheit – mein geistiger Standort? Wenn man nicht zu jenen Denkern, Politikern, Publizisten gehören will, die einfach immer die letzte Welle reiten, um ständig »up to date« zu sein, muss man seinen Standort grundsätzlich zu bestimmen suchen. In meiner ersten Vorlesung in diesem weiteren universitären Rahmen, am 16. Oktober 1980, drücke ich zuerst meine tiefe Dankbarkeit aus all denen, die mir in meiner schwierigsten Zeit ein geistiges Überleben ermöglicht haben, stelle jedoch zugleich unmissverständlich fest: Es soll an unserem Institut für Ökumenische Forschung keine Theologie gegen irgendjemanden , vielmehr soll noch intensiver und effizienter als zuvor ökumenische Theologie, also Theologie für die Ökumene getrieben werden. Wir beanspruchen kein Monopol, möchten aber gerne Vortrupp, Pioniere sein für eine ökumenische Theologie der katholischen wie der evangelischen Fakultät und für ihre wachsende ökumenische Integration. Für eine solche ist es – nach fast einem halben Jahrtausend Spaltung zwischen römisch-katholischer und reformatorischen Kirchen – angesichts der bedrohlichen Lage der Welt wahrhaftig an der Zeit.
Mein Engagement hat somit eine doppelte Dimension: das Verwurzeltsein in der eigenen Kirche und die grundsätzliche Offenheit für andere. Dass ich nach wie vor als katholischer Theologe wirken will, hatte ich in den Monaten der Auseinandersetzungen mit Rom immer wieder neu betont. Auch nach allem, was geschehen ist, fühle ich mich weder außerhalb noch am Rand, sondern mitten in dieser Kirche, die wesentlich mehr ist als ihre abgehobene Hierarchie. Überwältigend war ja die Unterstützung aus der katholischen Kirchengemeinschaft, sodass mich selbst dieser Missioentzug an der Zugehörigkeit zu dieser Kirche nie irre werden ließ. Im Übrigen gesteht mir selbst die vatikanische Glaubensbehörde zu, dass ich als Katholik Mitglied und Priester der katholischen Kirche mit allen Vollmachten und zugleich Theologe geblieben bin. Wie aber soll sich ein Katholik und Theologe anders nennen als eben – katholischer Theologe? Zwar ohne römische Lehrapprobation, dafür aber, nach der Überzeugung vieler, mit ökumenischer Legitimität.
Der Missioentzug hat so meine ökumenische Offenheit gefördert und hat mir weit über die katholische Kirchengemeinschaft hinaus Respekt und manche Sympathie verschafft. Jetzt fühle ich mich erst recht verpflichtet, mich für die Vertiefung und Ausweitung der Ökumene einzusetzen. Angesichts der römischen Verengung, die sich schon aufgrund einer erst zweijährigen Amtstätigkeit Johannes Pauls II. für die Ökumene ergeben hat, ist dies auch bitter notwendig.
Es ist mir also von Anfang an klar, dass ich meine Vision in einem zunehmend schwierigen Umfeld zu vertreten habe. Schon in meiner ersten Vorlesung gebe ich 1980 eine ungeschminkte Lagebeschreibung: von der römisch-katholischen Kirche zuerst, dann aber auch von der evangelischen Kirche besonders in Deutschland und schließlich vom Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf.
Veränderung der kirchlichen Großwetterlage
Das
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