Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Gottesdienst im oberschwäbischen Biberach und dann für einen Vortrag in Meersburg am Bodensee; sein Tod wird mir telefonisch mitgeteilt. Am 12. Oktober wird er in unserem Familiengrab in Sursee beigesetzt.
Leider konnte unser Papa schon an der Feier zu meinem 60. Geburtstag am 26. März 1988 nicht teilnehmen. Für die Tübinger Kollegen und Freunde hatte ich zuvor in die Tübinger Jakobuskirche zu einer Dankesfeier und ins Schloss Bebenhausen zu einem festlichen Abendessen eingeladen. Meine Mutter, Schwestern und Schwäger, auch meine Nichten, Neffen und engsten Freunde jedoch lade ich ein zu einer Frühlingsfahrt in den Tessin, insgesamt 35 Personen. Und dies im neuen ganz in Weiß gehaltenen Salonwagen der SBB mit eigenem Personal. »Sie haben es besser als der Papst«, begrüßt mich der Teamchef, »der hatte noch den alten Wagen.« Ab Luzern serviert man uns ein Frühstück. Vor der Einfahrt in den Gotthardtunnel ist die Landschaft noch verschneit, auf der Südseite herrscht zunehmend frühlingshaftes Wetter – Zeit für einen Aperitif. In Lugano steigen wir um in ein Motorboot und fahren zum idyllischen Gandria. Dort im Ristorante Miralago das Mittagessen. Nach einem Spaziergang mit dem Boot zurück nach Lugano. In unserem Salonwagen gibt es auf der Rückfahrt zum großen Amüsement aller ein Preisausschreiben mit Quizfragen: »Wer kennt Hans Küng wirklich?«. Preise sind zum Beispiel »ein italienisches Mittagessen für zwei Personen« (= eine Büchse Ravioli) … Dann zum Abschluss eine kalte Platte und wie immer genug Wein. Ein Freudentag, der allen als »einzigartig« in Erinnerung bleibt.
Am darauffolgenden Tag, einem Sonntag, feiere ich eine familiäre Eucharistiefeier in der Martinskapelle. Aber am 31. März wird unsere MUTTER mit einer Lungenentzündung ins Spital Sursee eingeliefert. Ich muss für den Karfreitagsgottesdienst am 1. April nach Tübingen zurück. Ich verabschiede mich mit einem Kreuzzeichen auf die Stirn und einem Kuss auf ihre blassen Lippen. Sie hatte mir schon oft deutlich gesagt, sie lehne jegliche lebensverlängernden Maßnahmen ab; immer wieder wiederholte sie: »Ich bin zufrieden.« Am 6. April 1988 verstirbt sie fromm und friedlich.
An ihrer Beerdigung, wie zuvor an der Tessinfahrt, nimmt auch ihr Patensohn, mein Cousin mütterlicherseits Dr. WALTER GUT , teil, konservativer Jurist, Staatsanwalt des Kantons Luzern und Staatsmann der Eidgenossenschaft. Die Nachricht von seinem Tod am 2. 8. 2012 erreicht mich im August im Seehaus am Telefon.
Er war nur wenige Monate älter als ich (geboren am 31. 8. 1927), und so waren wir schließlich die beiden Senioren der Küng-Gut-Sippen. Unsere Lebensläufe verliefen weithin parallel, wenn auch nicht ohne Spannung und zeitweilige Entfremdung. Schon im Primarschulalter verbrachten wir zusammen Ferientage, verstanden uns glänzend und maßen unsere Kräfte sogar in einem Wettbewerb des Äpfelessens.
Beide wollten wir nach dem Gymnasium Theologie studieren. Ich wählte das liberale Gymnasium der Kantonsschule Luzern, er aber das Gymnasium der Schweizerischen Missionsgesellschaft Bethlehem in Immensee, wo auch unser Onkel und Afrikamissionar Alois Gut sein tristes Pensionärsdasein fristete. Von meiner Mutter wurde mir mein Cousin Walter des Öfteren als Vorbild hingestellt: Er war zweifellos frömmer, disziplinierter, strebsamer, eben ein Gut-Gut, da seine Mutter, meine Tante, einen Gut geheiratet hatte. Ich aber war ein Küng-Gut und war froh, dass sich in mir die Ernsthaftigkeit der Guts mit der Leichtlebigkeit der Küngs mischte. Bei ihm glaubte jedermann, dass er einmal Priester werden würde, aber er wurde es nicht. Mir aber trauten selbst meine Klassenkameradinnen und Klassenkameraden in Luzern kein Theologiestudium zu, und doch schlug ich diesen Weg ein. Er zog nach zwei oder drei Jahren, angeblich aus gesundheitlichen Gründen, von Immensee ans Gymnasium der Benediktiner in Engelberg und wurde schließlich Jurist mit Bestnote. Ich aber zog von Luzern nach Rom ins gestrenge Collegium Germanicum und wurde in meinem siebten römischen Jahr zum Priester geweiht.
Aber meine zunehmend romkritische Wendung meint Walter nicht mitmachen zu können. Zwar publizierte er seinerzeit als Chefredakteur der »Civitas«, der Zeitschrift des Schweizerischen Studentenvereins, meinen großen kritischen Artikel »Priestermangel in der Schweiz?«, und dies auch gegen den Willen des Bischofs von Basel, Franziskus von Streng. Er war von
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