Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
HANS URS VON BALTHASAR als Leiter des männlichen Zweiges seines Laienordens vorgesehen. Doch schon in meiner Luzerner Zeit verliebt er sich in GRETH ZUST , verwitwete Tochter eines bekannten Luzerner Politikers. Balthasar diagnostiziert dies nicht etwa einfühlsam als Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit, vielmehr reichlich lieblos als Mangel an Gehorsamsbereitschaft Gott und ihm persönlich gegenüber. Der wegen seiner Bindung an die Schriftstellerin und Mystikerin ADRIENNE VON SPEYR aus dem Jesuitenorden ausgetretene Balthasar war schon früh fasziniert gewesen von der hohepriesterlichen Gestalt des Dichters STEFAN GEORGE , der einen »Neuen Bund« von mythisch-aristokratischen Menschen fern von der Politik um sich geschart hatte. Balthasar ist daher an einem rechtlich geordneten Statut für seinen Laienorden im Gegensatz zu Walter gar nicht interessiert, sodass dieses Unternehmen denn auch scheitert. Balthasar stirbt am 28. Juni 1988, merkwürdigerweise zwei Tage vor der angekündigten Ernennung zum »Kardinal der Heiligen Römischen Kirche«. Auf dem Grabstein neben der Hofkirche in Luzern steht trotzdem »Kardinal von Balthasar«.
Ich traue Walter und Greth in Luzern, und sie führen eine glückliche Ehe, obwohl Walter zeitweise von Zweifeln geplagt wird, ob er nicht seine ursprüngliche Berufung zum Priestertum verraten habe. Was ich ihm auszutreiben versuche. In all den Jahren betätigt er sich auch als scharfsinniger staatspolitischer und philosophischer Publizist. Als Chef des Erziehungs- und Kulturdepartements des Kantons Luzern (1971 – 87) führt er auch unpopuläre Reformen im Erziehungswesen durch; die Gründung einer Universität Luzern wird ihm durch eine Volksabstimmung vor allem wegen der befürchteten finanziellen Belastungen verweigert. Doch dann, schon pensioniert, bewährt er sich im Jahr 1990 in der unbequemen Funktion eines Sonderbeauftragten der Schweizerischen Bundesregierung für die Staatsschutzakten in der misslichen »Fichenaffäre«, der die 350.000 Einsichtsbegehren von Bürgern in die von der Bundespolizei illegalerweise angehäuften Fichen (Karteien mit Personendaten) zu behandeln hatte – im Vergleich zu der 2013 bekannt gewordenen systematischen uneingeschränkten digitalen Ausspionierung befreundeter europäischer Staaten, ihrer Institutionen und Bürger, durch amerikanische Geheimdienste beinahe eine Quantité négligeable.
Meine Kritik an Papsttum und Unfehlbarkeit aber lehnt Walter ab, und in der großen Konfrontation mit Rom 1979/80 lässt er mich völlig im Stich. Klar, dass unsere guten Beziehungen daraufhin sich abkühlen und ich lange Zeit an weiteren Diskussionen kein Interesse zeige. Das ändert sich erst in den letzten Jahren, und zwar auf seiner Seite: Er sieht angesichts der Restaurationspolitik der Päpste Wojtyła und Ratzinger immer mehr ein, dass ich mit meiner Kritik an Rom recht hatte, und vertieft sich nun, gründlich wie eh und je, in meine Bücher, eines nach dem anderen. Immer wieder schickt er mir kurze, aber sehr substanzielle Handschreiben, in welchen er meine Arbeit lobt und bewundert. Das hat mich natürlich versöhnt.
Wir sehen uns zum letzten Mal im Sommer 2010 beim Abendessen bei meiner Schwester Rita. Er war leise geworden und lächelt oft still vor sich hin. Dann wird er todkrank. Ich hatte vor, ihn nach meiner Eröffnungsrede zum Lucerne Festival am 8. August 2012 in der Reha-Klinik Sonnmatt in Luzern zu besuchen. Aber tief betroffen erhalte ich am 4. August die Nachricht von seinem Tod. So bleibt mir nur die Teilnahme an seiner Beerdigung im Stift Beromünster (nahe bei Sursee), für dessen Renovation er sich so sehr eingesetzt hatte. Es ist mir weh ums Herz, dass er in seinen letzten Wochen noch sehr viel leiden muss, oft unter Atemnot, wie mir seine Frau schreibt, und das zeigt mir einmal mehr die Grenzen der Palliativmedizin.
Mit letzter Kraft voran
Mir imponieren Zeitgenossen, die bis zum Ende im Dienst der Sache, der sie sich verpflichtet fühlen, durchhalten. Im August 2009 geht durch die Medien die Nachricht vom Tod von EUNICE SHRIVER-KENNEDY , verstorben mit 88 Jahren, und wenige Tage später auch die vom Tod ihres Bruders, Senator EDWARD KENNEDY , verstorben mit 77 Jahren: beide Geschwister von Präsident JOHN F. KENNEDY (ermordet 1963) und Justizminister ROBERT KENNEDY (ermordet 1968).
Von meiner Begegnung mit Präsident Kennedy im April 1963 habe ich im ersten Band meiner »Erinnerungen« (Kap. VII: Ein freier
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