Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Stiftung Weltethos, Sponsoren) vereinbarte Konzept auch eingehalten wird. Aber dafür hat jetzt mein Nachfolger zu sorgen.
Eine interessante Alternative wäre freilich jenes Konzept, das ich schon früher mit Stephan Schlensog angedacht habe und das vor dem Hintergrund des Angebots aus Peking neue Aktualität bekommt: Es ließe sich ohne allzu großen Aufwand ein Internet-Portal für mich einrichten, das mir ohne viele Schreibereien ermöglichen würde, auf alle möglichen Fragen der Kirchenreform, des interreligiösen Dialogs, aber auch des Weltethos, der Weltpolitik und der Weltwirtschaft in Videoclips Stellung zu beziehen. Ich müsste dafür also keine Reisen machen und wäre an kein festes Programm und keinen genauen Zeitplan gebunden. Alles könnte nach meinem Gutdünken gestaltet werden, sozusagen von meinem Wohnzimmer aus. Von Fall zu Fall könnte ich Antwort geben auf drängende Fragen unserer Zeit.
Aber: da müsste ich, auf die 90 zugehend, mich bemühen, mich weiterhin so intensiv und umfassend über das Weltgeschehen auf dem Laufenden zu halten wie bisher. Und dies lässt meine gesundheitliche Situation kaum zu. Freilich werde ich auch weiterhin zu aktuellen Fragen Stellung nehmen können.
Ich lebe auf Abruf: bin bereit, noch eine Weile weiterzuleben, weiterzuarbeiten, aber bin auch bereit, jederzeit Abschied zu nehmen. Es war mir ein in jeder Hinsicht reiches Leben geschenkt. Ich bin nicht »lebensmüde«, doch »lebenssatt« . Im Hebräischen sind zwei Wörter zu »lebenssatt« zusammengefügt: »betagt« und »gesättigt«. »Lebenssatt«, so ist nach der Bibel Abraham gestorben (Gen 25,8) sowie König David (1 Chr 23,1; 29,28), aber auch Hiob.
Und so frage ich mich: Habe ich denn nicht genug gelebt, gearbeitet, gefochten und erlitten? Mein Werk hat sich gerundet, ich möchte kein weiteres Buch schreiben, größere Reisen vermeiden. Habe ich doch praktisch die ganze Welt kennengelernt. Im Sommer 2012 hat es mir meine kleine Großnichte Anouk im Seehaus vor Augen geführt: In aller Stille hat sie die bunten Nädelchen gezählt, die auf meiner Weltkarte im Treppenaufgang meine Reisestationen und Wirkstätten markieren. Zu unser aller Erstaunen kam das Kind dabei auf die überprüfte Zahl 344!
Doch jetzt nehme ich die Vorboten des Todes ernst. Ich fühle mich dem Apostel Paulus in seinem letzten erhaltenen Schreiben an seine Lieblingsgemeinde in Philippi verbunden: Er fühlt sich »nach zwei Seiten gezogen«: »aufzubrechen«, »das wäre ja auch weit besser«, oder »am Leben zu bleiben«, »das wäre nötiger – um Euretwillen« (vgl. Phil 1,21 – 25).
Ich kapituliere nicht vor Krankheit und Gebrechlichkeit, kämpfe vielmehr gegen sie an, mit Medikamenten, physischen Übungen, geistigen Anstrengungen. Ich lasse mich nicht gehen, gehe selber den Weg, den ich für mich als richtig erkenne. Vielleicht stellt sich mir auf diesem Weg noch eine allerletzte Aufgabe, falls mir die Kraft dazu geschenkt wird. Wer weiß?
Epilog
Ja, niemand weiß, was uns der morgige Tag bringen wird, dies habe ich gerade gegen Ende dieser Erinnerungen wieder erfahren. Meine letzten Abschnitte über Altwerden und Sterben hatte ich im Wesentlichen im Sommer/Herbst 2012 niedergeschrieben. Im Frühling/Sommer 2013 hat sich jedoch Entscheidendes verändert, was mein »Aufbrechen« hinausschiebt. Nun gehöre ich ja sicher nicht zu jenen Lebenskünstlern, die unaufschiebbare Angelegenheiten so lange aufschieben, bis sie sich von selber erledigt haben. »Quod differtur non aufertur«, später auf Deutsch sprichwörtlich »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben« – dies gilt im Fall meines Sterbens mit tödlicher Absolutheit. Doch ich wurde 2012 mit zwei Herausforderungen konfrontiert, mit denen ich in der Tat nicht gerechnet hatte, die erneut meinen ganzen Einsatz abfordern, aber in mir auch neue Lebensgeister wecken. Sie betreffen die Zukunft der Stiftung Weltethos und – noch viel weitreichender – die Zukunft der katholischen Kirche.
Ein neuer Stiftungspräsident
Die erste Herausforderung ist rasch erzählt. In der Gewissheit, mit Altbundespräsident HORST KÖHLER einen idealen Nachfolger für das Präsidentenamt der Stiftung Weltethos gefunden zu haben, verabschiede ich Ende Dezember 2012 mein Mitarbeiterteam in die Weihnachtsferien. Der Weihnachtsfriede hält indes nicht lange. Denn schon Anfang Januar lässt uns Horst Köhler völlig unerwartet wissen, dass ihm aus persönlichen Gründen, anderen
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