Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
»wegen der Notwendigkeit oder Nützlichkeit für die universale Kirche, wegen Frieden und Eintracht in der Kirche«. 1 Die moralische Verpflichtung ergibt sich für mich aus der grundlegenden Struktur des Petrusamtes: Das Petrusamt ist nicht da, um über die Kirche absolutistisch zu herrschen, sondern um der Kirche und ihrer Einheit zu dienen. Sieht ein Papst, dass er – verschuldet oder unverschuldet – in einer bestimmten Notsituation diese grundlegende Funktion des Petrusamtes nicht mehr zu erfüllen vermag, so ist er moralisch verpflichtet, um der Kirche, ihrer Einheit und ihres Friedens willen und auch um der glaubwürdigen Darstellung des Petrusamtes selbst willen, auf sein Amt zu verzichten und einem anderen Papst freiwillig Platz zu machen, der die grundlegende Funktion des Petrusamtes wahrnehmen kann. So weit die klassische Rechtslage. Aber von diesem Recht auf freien Rücktritt hatte bisher nur ein Papst, der genannte Coelestin V., Gebrauch gemacht: im Jahr 1294. Das war vor über 700 Jahren.
Dass JOSEPH RATZINGER zu einem Verzicht auf das Amt fähig wäre, habe ich persönlich nie bezweifelt. Er ist ein Mann von großem Pflichtbewusstsein und Verantwortungsgefühl. Er hat auch auf diesen Fall schon früher in einem Gespräch mit einem Journalisten angespielt. Aber völlig überrascht hat auch mich der Zeitpunkt der Rücktrittserklärung: am 11. Februar 2013 – ausgerechnet am deutschen Rosenmontag, was viele bei uns deshalb zunächst als einen Faschingsscherz auffassen! Aber Ratzinger begründet seinen Rücktritt ernsthaft mit seinen abnehmenden Kräften, die es ihm nicht mehr gestatten würden, diese Verantwortung zu tragen.
Ich kann mich nur zu gut in seine Situation hineinfühlen: Er stand, wie berichtet, unter zunehmender Kritik wegen seines »Pleiten-, Pech- und Pannenpontifikats«. Unter zunehmender Belastung leidet er wegen der sich ständig noch ausbreitenden Missbrauchsskandale, zu deren Vertuschung er als Kardinal mit seinem Brief an die Bischöfe (Mai 2001) gesorgt hatte. Dazu kommt 2012 die »Vatileaks«-Affäre, welche die Kurie als einen Platz der Machtkämpfe, Intrigen und Sexskandale zeigt. Parallel zum öffentlichen Prozess im Vatikan gegen den Kammerdiener PAOLO GABRIELE , der vertrauliche Dokumente vom päpstlichen Schreibtisch entwendet und herausgegeben hatte, gab Papst Benedikt zur Aufdeckung der Hintergründe und Hintermänner drei Kardinälen den Auftrag, für ihn einen Geheimbericht auszuarbeiten, der ihm offensichtlich noch vor Weihnachten 2012 vorgelegt worden war. Dieser Bericht ist bisher nicht veröffentlicht, doch ist anzunehmen, dass der Papst bei seiner Lektüre in Abgründe sehen musste. Jedenfalls habe ich volles Verständnis dafür, dass er unter diesen Umständen nicht mehr mit all diesen Leuten zusammenarbeiten will und kann und daher seinen Rücktritt schon für den 28. Februar 2013 bekannt gibt. Er kann sich dabei auf Kanon 332, § 2 des revidierten Kirchenrechts berufen, wo es heißt: »Falls der Papst auf sein Amt verzichten sollte, ist zur Gültigkeit verlangt, dass der Verzicht frei geschieht und hinreichend kundgemacht, nicht jedoch, dass er von irgendwem angenommen wird.«
So habe ich dem mutigen Entschluss von Joseph Ratzinger in aller Öffentlichkeit volle Anerkennung gezollt. Mir scheint es lobenswert, dass er nicht dem Beispiel seines Vorgängers KAROL WOJTYŁA gefolgt ist, der sein Leiden und Sterben öffentlich, sogar für die Medien, zelebriert hatte, aber zumindest die letzten Monate völlig unfähig war, sein Amt noch auszuüben; faktisch hatte viele Dinge im Vatikan sein polnischer Privatsekretär STANISŁAW DZIWISZ entschieden.
Jetzt aber wird deutlich, dass durch den Rücktritt eine Entmystifizierung des Papstamtes in Gang gesetzt wird, deren Auswirkungen noch nicht abzusehen sind. Wiederholt habe ich ja darauf hingewiesen, dass der Papst ohnehin anders als ein Bischof oder Priester keine besondere Weihe empfängt, sondern durch Wahl einen speziellen Auftrag wahrnimmt, den er selbstverständlich auch zurückgeben kann.
Bedenklich erscheint mir freilich, dass Joseph Ratzinger als »Papa emeritus« sich nicht in seine bayerische Heimat oder an einen schönen Ort in Italien zurückzieht, sondern künftig mitten im Machtzentrum Vatikan, unmittelbar neben dem Apostolischen Palast, Residenz nimmt. Und dies nicht in einem Kloster, wie man fälschlicherweise verbreitet, sondern in einem zu einer hübschen vielräumigen Residenz ausgebauten
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