Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Küng« in der Hand. Bildunterschrift: »Überstanden!«
Mein Leben – Labyrinth oder Drachenkampf?
Begleitet von MARIANNE SAUR , die sich in für sie völlig unerwartet schwieriger Zeit in unserem Condominium (Bd. 2, Kap. III: Entscheidungen für Haushalt und Sekretariat) souverän bewährt hatte, und ihrer Freundin HEDE JACOBY treffen wir in der kretischen Hauptstadt Heraklion mit meinem Tübinger Kollegen HERBERT HAAG und seiner Gruppe »Biblische Reisen« zusammen. Haag ist Herausgeber des ersten katholischen historisch-kritischen »Bibellexikons« (1968). Im Artikel »Kreta« habe ich lesen können: »Die wissenschaftliche Erforschung Kretas begann 1900 mit der Ausgrabung von Knossos durch den Engländer J. A. Evans, wodurch der Palast des Minos und eine bisher unbekannte, in Vasen, Wandmalereien und architektonischen Formen sich offenbarende Kultur von hohem Alter und großer Vollkommenheit ans Tageslicht kam.« Schon lange wollte ich diese Insel kennenlernen, deren Kultur im 3./2. Jahrtausend v. Chr. aufgrund der Handelsbeziehungen mit dem Ägäischen Raum und vor allem mit Ägypten einen Schlüssel darstellt zum besseren Verständnis der mir schon vertrauteren ägyptischen und griechisch-römischen Kultur. Und so besuchen auch wir auf Fahrten quer durch die Insel die Ausgrabungen fürstlicher Paläste in Knossos und Phaistos und manches mehr.
Mich interessiert dabei besonders die in die griechische Mythologie eingegangene geheimnisvolle Erzählung von König Minos und dem menschengestaltigen, menschenfressenden Minotaurus (Stier-Mann). Ihm waren die Athener mit dem Opfer von sieben Jünglingen und sieben Jungfrauen tributpflichtig, bis ihn der athenische Held THESEUS tötete. Doch Theseus fand aus dem verwirrenden Labyrinth des Minotaurus nur heraus durch einen Faden, den ihm die Königstochter Ariadne als Wollknäuel zugesteckt hatte. Ist es nicht verständlich, dass mir im römischen Kontext ein »Papst Theseus I.« einfällt? Mit diesem Spottnamen betitelten wir im päpstlichen Collegium Germanicum wegen seiner oft allzu einfachen theologischen »Thesen« den Sozialwissenschaftler Professor Joseph Höffner, einen Germaniker, später Erzbischof von Köln und Kardinal, einer meiner Hauptgegner in der gerade hinter mir liegenden großen Konfrontation.
Als eine Art christliches Gegenbild zu Theseus könnte man den auch auf Kreta hochverehrten heiligen GEORGIOS ansehen, der den Drachen getötet haben soll, dieses Mischwesen aus Vogel, Schlange, Krokodil und Löwe (kein Dinosaurier!). Die historische Forschung hat den Drachen als eine Erfindung aus dem Zweistromland schon des 5. vorchristlichen Jahrtausends entlarvt und den heiligen Georg als einen seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. im östlichen Mittelmeer verehrten wundertätigen Offizier, der in Westeuropa zum ersten Mal im 11. Jahrhundert auf dem Siegel des Bamberger Domkapitels zusammen mit einem Drachen erscheint. So ist durch die Jahrhunderte die Legende von jenem Ritter St. Georg entstanden und gewachsen, der den Drachen getötet und so die Stadt und die zum Fraß geforderte Königstochter befreit haben soll.
Also St. Georg ähnlich wie Theseus eine legendäre, mythische Gestalt , was die Liturgiekommission des Vatikanum II veranlasste, das Georgsfest aus dem allgemeinen Festkalender der katholischen Kirche zu streichen. Das hat mir und vermutlich auch meinem Kollegen auf dem Konzil, Joseph Ratzinger, gar nicht gefallen, der ja ebenfalls einen Bruder namens Georg hat; St. Georg ist überdies Stadtpatron meiner Heimatstadt Sursee. Die kleinen Beispiele werfen die grundsätzliche Frage auf, wie heutzutage Mythen behandelt werden sollen. Sie sollten, wo sie für die Menschen eine Bedeutung haben, nicht einfach eliminiert, allerdings auch nicht historisch aufgefasst, sondern vernünftig für unsere Zeit interpretiert werden. Nur so ist ein einfühlsamer Umgang mit dem volkstümlichen, poetischen Erbe der Völker und Religionen und auch mit der Bibel gegeben. Im Prinzip wäre damit wohl auch Joseph Ratzinger einverstanden, nur dass er solche interpretierende »Entmythologisierung« kaum auf die Christologie und erst recht nicht auf das päpstliche und bischöfliche Privileg der Unfehlbarkeit anwenden möchte.
In den Wochen des Übergangs zu einem neuen Lebensabschnitt hatte ich viel Zeit, um über mein Leben nachzudenken. Ich denke zurück an das viele, das mir positiv wie negativ zugestoßen ist und was ich selber angestoßen habe. Und
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