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Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Titel: Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Küng
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sich jedoch drei weitere Reaktionen beobachten, die mir alle gewichtig und im Prinzip gerechtfertigt erscheinen:
    1. Man kann sich auf Gemeindeebene engagieren und unbekümmert um Papst und Bischof sich mit dem Seelsorger und der Gemeinde vor Ort identifizieren oder, wie es immer mehr von Männern und besonders von Frauen getan wird, anstelle des fehlenden Pfarrers agieren.
    2. Man kann öffentlich protestieren und energisch von der Kirchenleitung einen Wandel fordern. Nicht austreten, auftreten ist die Devise! Doch ist das kritische Potential angesichts des massiven Widerstandes des in Deutschland durch Staatskirchenrecht und Kirchensteuer abgesicherten römisch-katholischen Establishments immer schwächer geworden.
    3. Man kann über die entstandene Lage wissenschaftlich reflektieren und publizieren und so die einzelnen Kirchenmitglieder und Gemeinden geistig orientieren und inspirieren. Das tun jene Theologen, die sich nicht resigniert zurückgezogen oder sich bequem im akademischen Elfenbeinturm eingerichtet haben, sondern ihre Aufgabe als Lehrer der Kirche wahrnehmen (vgl. 1 Kor 12,28 f.). Meine besondere Aufgabe als Lehrer der Theologie ist vor allem die zuletzt genannte. Doch stellt sich da für mich wie für jeden Theologen die Frage:
    Sollen Theologen schweigen?
    Soll auch ich zu diesem insgesamt höchst unerfreulichen Restaurationsprozess nicht einfach schweigen ? Aber: »Qui tacet, consentire videtur!« Immerhin ein Satz aus den päpstlichen Dekretalen: »Wer schweigt, scheint zuzustimmen«! Aus vielfältiger Erfahrung weiß ich nur zu gut, dass viele katholische Theologen, die angesichts der Übermacht von Papst und Episkopat ein offenes Wort nicht wagen, keineswegs zustimmen. Ihnen würde ich gerne zurufen: »Qui dissentit, loquatur – wer nicht zustimmt, möge reden!« Oder wenn sie nur im Kollegen- oder Freundeskreis frank und frei reden: »Was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet von den Dächern.« (Mt 10,27)
    Oder sollen wir als Theologen die Segel einziehen und uns wie bestimmte Kirchenführer treiben lassen, nur weil gerade Flaute herrscht? Sollen wir deswegen auch noch das Rudern aufgeben und verzweifeln? Oder einfach im kirchenamtlichen Mainstream mitschwimmen? Nein, die Theologie hat in der Christenheit ihre eigene Würde und Verantwortung. Und gerade in Zeiten der Bedrängnis, des Stillstandes, der Resignation kommt alles darauf an, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass wir trotz allem nüchtern die Ansätze für eine weitere positive ökumenische Entwicklung wahrnehmen und fördern, dass wir weiterdenken, in unseren Veröffentlichungen Stellung beziehen und alle ihren Mann, ihre Frau stellen. Je nach Temperament jeder auf seine Weise: eher sanft und leise oder laut und deutlich.
    Gewiss, die Nachfolge der alt- und neutestamentlichen Propheten sollte kein Professor ohne Not in Anspruch nehmen. Zum Propheten kann man sich glücklicherweise in keiner theologischen Fakultät promovieren oder habilitieren lassen; und wer könnte schon, wissend um die beinahe unerträgliche Last prophetischer Aufgaben, eine solche Berufung auch nur anstreben wollen … Biblisch gesprochen ist es weder die Nachfolge der Apostel noch die der Propheten, wohl aber die Nachfolge der Lehrer , der Didaskaloi, der Doctores, die Theologen beanspruchen dürfen. Und mit Paulus dürfen sie dann durchaus provozierend fragen: »Sind denn etwa alle Lehrer?« (1 Kor 12,29). Paulus meint, nein, und sagt: »Es gibt verschiedene Charismen, Gnadengaben.« (1 Kor 12,4). Und so hat »Gott in der Kirche die einen als Apostel eingesetzt, die anderen als Propheten, die dritten als Lehrer.« (1 Kor 12,28). Die Theologie gründet anders als die Prophetie nicht unmittelbar auf Offenbarung, sondern auf Überlieferung. Sie ist weniger direkte Anrede für die konkrete Situation als vielmehr grundsätzliche Auslegung und Belehrung; sie geschieht weniger intuitiv-appellativ als explikativ-systematisch. Natürlich sind im Konkreten die Übergänge zwischen dem Propheten und dem Professor fließend, und es kann Situationen geben, wo ein Professor in eine prophetische Rolle hineingedrängt wird.
    »Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!«, sagt der Apostel Paulus im Ersten Korintherbrief (9,16). »Weh mir, wenn ich die Wahrheit des Evangeliums nicht lehre!«, sollten sich die Lehrer in der Christenheit sagen. Oder werden etwa gerade heute wieder kritische Theologen in der römisch-katholischen Kirche schweigen müssen,

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