Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Sache verpflichtet – auf eine ökumenische Zukunft ausgerichtet ist, indem sie andere religiöse und nicht-religiöse Positionen der Gegenwart selbstverständlich miteinbezieht.
Dies alles – und das ist der Untertitel meiner Vorlesungen 1980/81 – als »Perspektiven für einen Konsens der Zukunft«. Eine christliche Theologie ist heute gefordert, die – gerade weil sie sich den zentralen theologischen Fragen widmet – offen ist für die ganze Welt, die konkreten Fragen, Nöte und Hoffnungen aller heutigen Menschen. Doch ist das nicht eine Illusion?
Zukunftschancen einer Vision: Minus- und Pluspunkte
So oft bin ich schon gefragt worden: »Glauben Sie denn wirklich, dass Sie (und Ihre Freunde) sich mit Ihren Ideen durchsetzen können in diesem autoritären römischen System?« Ja, nur zu gut kenne ich dieses System und habe Verständnis für solche Fragen. Immer habe ich Gewicht darauf gelegt, dass ich Professor und nicht Prophet und erst recht nicht Wahrsager bin und dass Prognosen im Bereich Religion nicht weniger schwierig sind als auf den Finanzmärkten und in der Weltpolitik, wo sich auch Experten wegen wechselnder Zeitumstände öfters irren. Aber selbstverständlich habe ich mir viele Gedanken gemacht über die Zukunftschancen meiner Vision. Sie weist, was die katholische Kirche betrifft, Minus- und Pluspunkte auf, die zur Abschätzung der Chancen zugleich in Betracht zu ziehen sind.
Einerseits die Minuspunkte :
– Papst und Kurie werden unter den gegenwärtigen Bedingungen weiterhin alles daransetzen, um ihre absolutistische Machtstellung in der römisch-katholischen Kirche zu bewahren, und werden ihren Machtbereich auch auf die autokephalen orthodoxen Kirchen des Ostens auszuweiten versuchen.
– Die verschiedenen nationalen Bischofskonferenzen werden aufgrund der Auswahlkriterien für Bischöfe im Allgemeinen der vatikanischen Linie folgen, auch wenn sich ihr Klerus immer mehr ausdünnt und die Kirchenflucht der Gläubigen allenthalben weitergeht.
– Statt Erneuerung betreibt man Kosmetik: Bei der Papstmanifestation mit Benedikt XVI. im österreichischen Mariazell werden später (2007) für alle anwesenden Bischöfe von einer Modedesignerin gegen alle liturgischen Vorschriften grellblaue Gewänder (mit gelben Streifen) entworfen, um über das Fernsehen der ganzen Welt eine erneuerte Kirche zu präsentieren; doch statt Zuwendung zum katholischen Glauben ernteten sie Spott: papageienhaft gekleidet hätten sie ohne eigene Gedanken dem Papst nachgeplappert, und es habe nur die Schminke auf dem Gesicht gefehlt, um das Papstwort »Die Kirche ist jung!« wahr erscheinen zu lassen.
– Die Pfarrei-Zusammenlegungen zu Seelsorge-Einheiten wegen des gravierenden Priestermangels sind offensichtlich eine Scheinlösung, die den überforderten Seelsorger noch mehr von den Menschen entfernen; doch mit solchen pastoralen »Neuordnungen« täuschen die Bischöfe vergebens über den vom Zölibatszwang verursachten Kollaps der seit Jahrhunderten aufgebauten Gemeindestrukturen hinweg.
– »Opus Dei«, »Legionäre Christi« und ähnliche mehr oder weniger geheime Gruppierungen werden die römische Macht finanziell, publizistisch und politisch abzusichern und zu stärken versuchen.
– Die neuen charismatischen Bewegungen werden von Rom als die neue jugendliche Basis der Kirche gehätschelt und durch konservative Geldgeber gefördert, und dies besonders in Regionen, die keine kritische Theologie kennen; selten allerdings dienen sie dem Aufbau der zusammenbrechenden Gemeinden.
– Die konservativen römisch-katholischen Kreise werden sich unter Umständen zur Rettung des »integralen« christlichen Glaubens mit protestantischen evangelikalen Gruppierungen verbinden, sodass man von einem fundamentalistischen, »evangelikalen Katholizismus« reden wird.
Andererseits die Pluspunkte:
– Diese neuen charismatischen Bewegungen lassen den Großteil der Jugendlichen und der Katholiken kalt. Sie bleiben eine kleine Minderheit, die den Zusammenbruch der Gemeinden, das Absterben des zölibatären Priestertums und den von der Säkularisierung geförderten Gläubigenschwund nicht aufhalten können.
– Alle Meinungsumfragen in den Industrienationen zeigen große Mehrheiten für weitere Reformen in kirchlicher Lehre (etwa bezüglich Geburtenregelung) und Praxis (etwa Eucharistiegemeinschaft). Die besonders von Rom hochgehaltenen traditionellen Lehrdifferenzen zwischen den Kirchen, ja die traditionelle
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