Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
heute habe ich dich gezeugt!« (Apg 13,33, vgl. Ps 2,7).
Doch wie froh bin ich, dass ich am 20. Dezember 1980 von Zürich direkt in die Berge, in mein geliebtes Lech, fahren darf – ohne wie ein Jahr zuvor auf der Skipiste die Unglücksbotschaft von einem römischen Bannstrahl und eine überstürzte Rückfahrt nach Tübingen fürchten zu müssen. Im Gegenteil: der Himmel meint es gnädig mit uns. Wir werden in Lech eingeschneit: Statt am 4. Januar kann ich erst am 9. Januar zurückfahren. Doch jetzt geht es mit voller Kraft an die Realisierung neuer Projekte. Es sind allesamt Pilotprojekte.
Pilotprojekt I: Paradigmenwechsel in der Theologie
Die große Konfrontation 1979/80 hat klar gezeigt: Es geht in den gegenwärtigen, noch keineswegs beendeten Auseinandersetzungen in der Christenheit nicht nur um eine einzelne theologische Doktrin, sondern um die Theologie überhaupt. Schon der neue Anspruch von Papst (Vatikanum I) und jetzt auch Episkopat (Vatikanum II) auf Unfehlbarkeit berührt ja das Ganze von Theologie und Kirche. Es geht also nicht nur um die Theorie, sondern um die Praxis der Theologie: wie, auf welcher Grundlage und nach welchen Kriterien Theologie betrieben werden soll.
Die letzten Jahre haben es mir – und nicht nur mir – klargemacht: Jeder Theologe wird in diesen Auseinandersetzungen vor bestimmte Entscheidungen gestellt, was für eine Theologie er betreiben soll. Will er:
– eine konformistische, opportunistische oder will er eine wahrhaftige Theologie, die eine ehrliche Rechenschaft vom christlichen Glauben gibt und die christliche Wahrheit in Redlichkeit sucht?
– eine obrigkeitshörige, autoritätsfromme oder aber eine wirklich freie Theologie, die ihre Aufgabe trotz aller Behinderungen durch administrative Maßnahmen und Sanktionen erfüllt und ihre begründeten Überzeugungen nach bestem Wissen und Gewissen ausspricht und auch publiziert?
– eine vergangenheitsorientierte, traditionalistische oder aber eine kritische Theologie, die zukunftsgerichtet zu unterscheiden weiß zwischen evangeliumsgemäßen und evangeliumswidrigen kirchlichen Lehren und Praktiken?
– eine abgeschottete, konfessionalistische oder aber eine ökumenische Theologie, die in einer anderen Theologie oder Kirche nicht mehr den Gegner, sondern den Partner sieht und statt auf Trennung auf Verständigung aus ist?
Mir ist klar: ein solches theologisches Unternehmen ist heutzutage mehr denn je spannungsgeladen, und ich spürte und spüre sie am eigenen Leib, diese Spannungen : zwischen dem pastoralen Lehramt der Kirchenleitungen und dem wissenschaftlichen Lehramt der Theologen, zwischen Bewahrung und Übersetzung, Identität und Relevanz der christlichen Botschaft, zwischen Sachgemäßheit und Zeitgemäßheit der Verkündigung, zwischen Tradition und Situation, Binnensprache und Außensprache, Text und Kontext. Hier liegt auch die Spannung zwischen Joseph Ratzinger und mir begründet.
Aber in der gegenwärtigen Phase der Theologie und Kirchengeschichte geht es nicht nur um auszuhaltende Spannungen; dies wäre eine allzu statische Sicht der heftigen Kontroversen und Konflikte. Es geht vielmehr um Entwicklungen und Neuorientierungen, ja um Umbrüche und Umwälzungen , in denen nicht nur Altes neu auszusagen, sondern Neues anzusagen ist, das mit Altem oft nicht mehr vermittelbar ist. Umbrüche, in denen wie etwa in der kopernikanischen Revolution oder in der protestantischen Reformation eine frühere durch eine neue Gesamtkonstellation ersetzt wird. Das sind Gedanken, die ich mir im Reflektieren des wissenschaftstheoretischen Problemfeldes überlege, zuerst in Tübingen, aber bald erneut und noch intensiver in Chicago.
In Chicago Theologie und Religionswissenschaft vereint
Wichtiger als viele Einzelvorträge in den USA wird für mich das Gastsemester an der University of Chicago , seit ihrer Gründung 1857 eine der bedeutendsten Bildungsstätten der Vereinigten Staaten. Schon früh im Jahr 1980 bin ich für das Herbstsemester vom 1. Oktober bis zum 10. Dezember 1981 eingeladen worden.
Nachdem ich 1968 ein Semester an der Ostküste, in New York, verbracht hatte, ist es mir sehr willkommen, den Mittleren Westen, das »Heartland« Amerikas, besser kennenzulernen und damit eine der dynamischsten Städte des Kontinents, Chicago am Südwestufer des Michigansees. Die Divinity School der University of Chicago genießt einen exzellenten Ruf und ist für mich attraktiver und dynamischer als andere, weil hier
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