Erlösung
stellte sich vor die Tür des Zimmers, in dem seine Frau unter Kartons begraben lag. Noch einmal konstatierte er in einer Mischung aus Wehmut und Zufriedenheit, dass alles totenstill war. Sie beide hatten es gut miteinander gehabt. Sie war schön und sanft und eine gute Mutter, da gab es nichts. Auch hier hatte er es sich selbst zuzuschreiben, dass es nicht funktioniert hatte. Ehe er sich noch einmal eine Frau suchte, mit der er zusammenleben wollte, musste er dafür sorgen, dass alles, was in jenem Raum lagerte, vom Erdboden verschwand. Bisher hatte die Vergangenheit wie Mehltau über seinem Leben gelegen, aber in Zukunft durfte sie das nicht mehr. Ein paar Entführungen würde er noch durchziehen, dann würde er sein Haus verkaufen und sich schließlich weit weg von hier zur Ruhe setzen. Vielleicht konnte er bis dahin lernen, wie man lebte.
Er lag einige Stunden auf dem Ecksofa und ging die Aufgaben durch, die vor ihm lagen. Den Vibehof mit dem Bootshaus konnte er behalten, das stand fest. Aber für das Haus in Ferslev musste er sich Ersatz suchen. Ein kleines abgelegenesHaus, irgendwo. Wo kein Mensch hinkam. Am besten eines, dessen Besitzer in der Gegend als Außenseiter verschrien war. Irgendein Alter, der sich selbst versorgte und niemandem zur Last fiel. Wahrscheinlich würde er diesmal weiter südlich suchen müssen. Als er die Gegend von Næstved erkundet hatte, waren ihm ein paar geeignete Häuser aufgefallen, aber erfahrungsgemäß war die endgültige Auswahl nicht leicht.
Der Besitzer des alten Hofs in Ferslev hatte perfekt gepasst. Niemand interessierte sich für ihn, und er selbst interessierte sich noch weniger für andere Menschen. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens in Grönland gearbeitet, und er hatte eine Freundin in Schweden. Wenn man im Dorf nach ihm fragte, hatte es immer geheißen: »Soviel ich weiß«. Dieses herrlich vage Soviel-ich-weiß hatte ihn auf die Spur gebracht. Das sei ein Mann, der allein zurechtkam und von dem Geld lebte, das er in einem früheren Leben verdient hatte, hieß es. Sie nannten ihn einen Sonderling, und damit war sein Todesurteil unterschrieben.
Jetzt war es zehn Jahre her, dass er diesen Sonderling umgebracht hatte, und seither hatte er sorgfältig darauf geachtet, alle Fensterbriefumschläge, die durch den Briefschlitz ins Haus fielen, zu öffnen und zu bezahlen. Nach ein paar Jahren hatte er Strom und Müllabfuhr abgemeldet und seither war niemand mehr gekommen. Ausweis und Führerschein – mit dem Namen des Mannes, aber mit neuen Fotos und einem glaubwürdigeren Geburtsdatum versehen – hatte er sich von einem Fotografen in Vesterbro anfertigen lassen. Ein guter Mann, der Wort gehalten hatte und der das Fälschen als Kunstform betrachtete – wenn sich die Rembrandt-Schüler schuldig gemacht hatten, dann doch auch nur auf Geheiß des Meisters! Ein wahrer Künstler.
Zehn Jahre hatte ihn der Name Mads Christian Fog begleitet, und das war nun leider vorbei.
Jetzt war er wieder einfach Chaplin.
Als er sechzehneinhalb war, verliebte er sich in eine seiner beiden Stiefschwestern. Sie war unglaublich zart und ätherisch, hatte eine hohe Stirn und eine so durchscheinende Haut, dass die Adern an den Schläfen zu sehen waren. Ganz anders als das grobe Genmaterial seines Stiefvaters und auch ganz anders als seine eigene derbe Mutter.
Er wollte sie küssen, sie in den Arm nehmen und in ihren Augen versinken, aber er wusste, das war strengstens verboten. In den Augen Gottes waren sie echte Geschwister und Gottes Augen waren in diesem Haus allgegenwärtig.
Schließlich verlustierte er sich mit jenen sündhaften Freuden, die man ganz für sich allein haben konnte, abends unter der Bettdecke oder mit einem heimlichen Blick auf die Stiefschwester. Dazu brauchte er nur auf den Dachboden zu steigen und durch die Ritzen in den Dielen über ihrem Zimmer zu spähen.
Dabei erwischten sie ihn eines Tages sozusagen auf frischer Tat. Er hatte auf dem Fußboden gelegen und die Gelegenheit abgepasst, die Schöne in ihrem dünnen Nachthemd zu betrachten, als sie ihren Blick plötzlich nach oben richtete und ihn entdeckte. Sein Schock war so groß, dass er den Kopf mit einem Ruck zurückzog und dabei gegen einen Dachsparren schlug, wo sich ein vorstehender Nagel hinter seinem Ohr durch die Haut bohrte.
Sie hörten ihn auf dem Dachboden stöhnen, und das war’s dann.
In einem Anfall von Gottesfurcht petzte seine Schwester Eva bei Mutter und Stiefvater. Was ihre blinden
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