Erlösung
den Verstand rauben. Wie sollte man zwischen richtig und falsch entscheiden, wenn einem der fürchterliche Durst nach Blut so sehr zusetzte, dass man keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte? Solche Gewissensbisse hatte ich nur gelegentlich und sie waren auch nur von kurzer Dauer, denn mir war immer bewusst, dass unser Vorhaben letztendlich nötig war. Solange die Vampire auch weiterhin unentdeckt bleiben wollten, mussten Abtrünnige aus dem Weg geräumt werden und Jäger wie wir waren dafür nun einmal unabdingbar. Die Ältesten waren zwar die Mächtigsten unter uns Vampiren, es war jedoch unwahrscheinlich, dass sie sich die Finger schmutzig machten. Aber das war okay für mich, denn die Ewigkeit würde ohne eine wirkliche Aufgabe bloß unerträglich erscheinen und ich war noch nie der Typ gewesen, der untätig herum saß. Ich brauchte Trubel um mich herum und für einen guten Kampf tat ich fast alles. Nicholas und ich beseitigten alle Spuren am Tatort, damit nichts mehr an das dunkle Geschehen erinnerte. So wie wir es immer taten, als würde es uns gar nicht geben. Manchmal fand ich es erstaunlich, dass unsere Rasse Jahrhunderte überlebt hatte, ohne wirkliches Aufsehen zu erregen. Die wenigen Momente bei denen es gefährlich geworden war, entdeckt zu werden, waren gering und bisher waren sie immer mit logischen Argumenten verschleiert worden. Ob es ewig so weitergehen konnte? Dieser Gedanke geisterte noch in meinem Kopf herum, nachdem ich mich bereits von Nicholas getrennt hatte. Er hatte sich wieder auf den Weg zurück in unsere Bleibe gemacht, doch ich wollte noch einmal bei Evelyn vorbeischauen. Als ich mir einen Weg durch die überfüllten Straßen bahnte, traf es mich plötzlich und völlig unvorbereitet. Es fühlte sich an wie ein elektrischer Schlag oder ein Zucken, das in meinem Inneren versuchte auszubrechen. Ich wusste nicht, wie es möglich war, dass ich überhaupt so etwas empfinden konnte, aber ich spürte Evelyn, so als wären wir bereits im Blut miteinander verbunden worden. Ihr Herz hatte einen Sprung gemacht, ihr Puls überschlug sich für wenige Sekunden und dann war es, als würde ich sie durch meine eigenen Augen sehen können. Als stünde ich bereits in ihrem Zimmer im Krankenhaus.
Doch ich war nicht die Person, die bei ihr war. Jetzt, da Evelyn endlich aus ihrem Koma erwacht war.
Der Fremde
Ich wusste nicht mehr, wie ich die letzten Meter überhaupt zurückgelegt hatte. Schnell, ziemlich schnell, soviel war klar. Möglicherweise in einem neuen Rekord. Ich war zum Krankenhausgelände gehetzt, hatte mich in den dunkelsten Winkel versteckt, um mir so unauffällig wie möglich Zutritt zu verschaffen. Niemand sollte mich sehen, niemand durfte mich entdecken, denn ich war schließlich offiziell gar nicht hier. Und noch ehe ich bis in den dritten Stock vorgedrungen war, spürte ich Evelyns Präsenz. Überdeutlich, als würde ich bereits neben ihr stehen.
Ich hechtete durch das abgedunkelte Treppenhaus, bewegte mich wie ein Schatten über die halbleeren Flure der Station, bis ich endlich das Zimmer erreichte, in dem meine Liebe so lange geschlafen hatte. Aber ich sah zuerst nur eine andere Frau in einem weißen Kittel, die an Evelyns Bett stand. Sie beugte sich lächelnd nach vorne und schüttelte das Kissen etwas auf, um es danach wieder zurückzulegen. „Ist es so besser?“, fragte sie zuvorkommend.
Evelyn lehnte sich nach hinten und nickte zurückhaltend. „Ja, danke, Doktor…?“
„Theresa Ashton“, antwortete die vermeintliche Ärztin freundlich. „Sie waren für eine Weile außer Gefecht gesetzt, aber keine Sorge, das wird schon. Sie müssen sich nur gedulden.“
Ich trat einen Schritt vor, ohne meinen Blick von ihnen abzuwenden. Dummerweise verschwendete ich keine Sekunde mehr auf meine Tarnung, ich ließ zu, dass man mich sah. Dr. Ashton bemerkte mich als Erste. „Guten Abend Sir, kann ich Ihnen helfen?“
Etwas irritiert starrte ich sie an. „Wie… nein… ich bin hier wegen meiner…“ Ja, verdammt! Was? Wegen meiner Frau? Freundin? „Ähm, wegen Miss Richwood.“ Ich versuchte an Dr. Ashton vorbeizuschauen, aber nun stellte sie sich mir direkt gegenüber, so dass ich Evelyns Gesicht nicht mehr sehen konnte. Die Ärztin räusperte sich, doch ihr freundliches Lächeln blieb.
„Nun, sind Sie ein Mitglied der Familie? Es tut mir leid, dass ich Sie das frage, aber die normalen Besuchszeiten sind vorüber. Und die Patientin ist soeben erst aus dem Koma erwacht,
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