Erloschen
junge Typ, der andere Miet-Feuerwehrmann, ist Agent O’Dells Bruder?«
»Ist er«, antwortete Harper lächelnd. Anscheinend stör te ihn die abfällige Bezeichnung nicht.
»Wer hätte das gedacht?«, sagte Jeffery. »Wie klein die Welt doch ist, nicht wahr?«
49
Das wird ein Spaziergang, dachte Maggie. Der erblindete Kernan konnte ihre Reaktionen auf seine Beleidigungen und sonstigen subtilen Seitenhiebe gar nicht sehen. So wie er den Kopf neigte und das Kinn reckte, bestand kein Zweifel, dass er sich auf sein Gehör und seinen Geruchssinn verließ, nicht auf seine Augen.
»Nochmals«, sagte Maggie, »ich bin nur hier, weil mein Vorgesetzter es verlangt.«
»Ah, ja, stimmt. Und Vorgesetzte irren sich immer, nicht wahr?«
»Sie müssen sich an Regeln und Vorschriften halten, und das verstehe ich.«
Er lehnte sich zurück, den Kopf zur Seite geneigt, als lauerte er auf eine Reaktion. Dann verschränkte er seine Finger und legte die Hände auf seine Brust. In diesem Moment bemerkte Maggie, dass sein Schlips marineblau war und sein Anzug dunkelbraun. Er hatte niemanden, der ihm beim Anziehen half. Keinen, der ihm einen Rat gab, bevor er das Haus verließ. Nur den Hund, der in sei ner Ecke lag und Kernan fest im Blick hatte. Leider konnte einem ein Hund nicht sagen, dass die Krawatte nicht zum Anzug passte. Und Maggie hätte sich am liebsten selbst da für in den Hintern getreten, dass sie Mitleid mit Dr. James Kernan empfand.
»Aber Sie glauben dennoch, dass sich die Vorgesetzten irren und Sie nicht hier sein sollten?«
Sie lehnte sich ebenfalls zurück. Ihre Hände umklammerten nicht mehr die Sitzfläche; sie ruhten auf ihrem Schoß. Maggie sah ihn an und fragte sich, wie es sein musste, gerissen und scharfzüngig, brillant und geistig unbesiegbar und doch vollkommen allein auf der Welt zu sein. Nein, er tat ihr nicht leid. Er war ihr eher unangenehm ähnlich .
War das ihre Zukunft? Würden bei ihr später anstelle von Krimskrams aus der Psychologiegeschichte irgendwelche Andenken an Serienmörder herumstehen?
Maggie dachte an Lucy Coy, die Indianerin in den Sandhills von Nebraska. Sie wollte wie Lucy alt werden, umgeben von Hunden und stiller, wunderschöner Landschaft.
»Sind Sie schwerhörig geworden, MISS O’Dell?«
Sie hatte vergessen zu antworten, und jetzt würde Kernan etwas in ihr Zögern hineindeuten.
»Sie würden weit lieber einem Mörder mitten zwischen die Augen schießen, nicht wahr?«
Normalerweise hätte sie bei dieser Spitze das Gesicht verzogen, aber Maggie ertappte sich dabei, wie sie lächelte. Kernan hatte seine Fähigkeit verloren, sie zu beleidigen, einzuschüchtern und dazu zu bringen, sich selbst zu hinterfragen. Er besaß keine Macht mehr über sie. Heute sah sie in ihm nur einen gebrechlichen alten Mann mit weißem Haar, der ihr Lächeln gar nicht sehen konnte.
»Ich bin nicht dieselbe, die ich noch vor fünf Jahren war, Dr. Kernan.«
»Stimmt das?« Er presste die Lippen zusammen und machte sein typisches »Ts-ts«, das bedeuten sollte, ihm könne man nichts vorgaukeln. Tatsächlich hatte Maggie genau dies bereits getan.
Sie wollte ihn daran erinnern, dass auch er heute ein anderer war als bei ihrer letzten Begegnung, da warf er sie mit einer Frage aus der Bahn: »Wie lange haben Sie diese Kopfschmerzen schon?«
Maggie hatte niemandem von ihren Kopfschmerzen erzählt. Und sie wusste, dass sie in ihrer Krankenakte nicht erwähnt wurden. Manchmal hatte der Verlust eines Sinnes zur Folge, dass die anderen umso sensibler wurden. War das bei Kernan der Fall?
»Woher wissen Sie das?«
Diesmal war es an ihm zu lächeln.
»Sie haben es mir eben gesagt.«
Sie fühlte, wie sie rot wurde. Es war der älteste Lehrbuchtrick, und sie war auf ihn hereingefallen.
»Nun sind wir quitt«, sagte Kernan. »Vielleicht können wir dann noch einmal von vorn anfangen. Ich mag so gut wie blind sein, O’Dell, Margaret, aber unterschätzen Sie mich nicht. Unterschätzen Sie nie Ihren Gegner, ganz gleich, welche Schwäche Sie an ihm wahrzuneh men glauben.«
»Dies hier könnte sicher ungleich besser laufen, wenn Sie mich nicht als Gegner betrachten würden.« Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie wütend war. Schließlich ging es hier doch genau darum, wie und was sie empfand, oder nicht?
Sie wappnete sich für seine albernen, beißenden Wortspiele, doch er sagte nichts. Seine Brille vergrößerte die wässrig-blauen Augen, als er auf einen Punkt über ihrem Kopf starrte, die Lippen
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