Erloschen
ausharren können. Er setzte sich auf den kalten Beton und begriff schnell, warum die meisten der dampfenden Abluftgitter schon besetzt waren.
Er aß sein Sandwich und trank den Kaffee. Das vergrößerte Foto von dem Mann hatte er sich eingeprägt, und auch wenn seine Gesichtszüge größtenteils überschattet waren, würde er seinen Körperbau, das zottelige Haar und den spitzen Bart wohl wiedererkennen. Aber im Grunde war es egal. Wie viele Leute stiegen schon nach fünf Uhr aus einem Kanalschacht?
Er hockte da, aß, trank und beobachtete. Nach einer halben Stunde war sein Hintern taub vor Kälte. Er überlegte, auf einen der Lüftungsschächte zu wechseln, aber die waren mittlerweile alle besetzt, und von dort aus konnte er sowieso nicht alle drei Kanaldeckel gleichzeitig sehen. Die Sonne verschwand hinter den Häusern, sodass der Gehweg im Schatten lag. Sehr bald würde es feucht und kalt werden.
Tully stand auf, lehnte sich an die Mauer und schaute sich nach einem wärmeren Platz um. Daher war er ein bisschen abgelenkt, als plötzlich ein orangefarbener Helm aus dem am weitesten entfernten Kanaldeckel auftauchte.
60
Maggie sah Dr. Mia Ling an der ersten Sicherheitssperre, wo sie sich gegenüber einem Uniformierten auswies. Dass Ling hier war und nicht der Gerichtsmediziner Stan Wenhoff oder einer seiner Assistenten, hieß, dass die Leichen auf sehr wenig Fleisch und größtenteils Knochen reduziert waren. Pathologen arbeiteten mit Gewebe und Organen. Anthropologen wurden dann hinzugerufen, wenn davon nicht mehr viel übrig war.
Unmittelbar bevor Ling sich unter dem Absperrband hindurchduckte, bemerkte sie Maggie. Sie gab sich keinerlei Mühe, ihre Erleichterung zu verbergen.
Maggie wünschte, es bräuchte auch bei ihr nicht mehr als ein bekanntes Gesicht, um sich wohlzufühlen. Das Feuer war gelöscht, Flammen und Rauch waren ver schwunden. Die Feuerwehrleute packten ihre Ausrüstung ein. Die Sanitäter behandelten drei Feuerwehrmänner in ihren Wagen. Einer hatte eine Sauerstoffmaske auf, ein anderer trug einen frischen Verband, durch den bereits wieder Blut sickerte, und der dritte stand geduckt neben der Radkappe. Es sah aus, als würde er sich übergeben.
Maggie kämpfte ebenfalls mit der Übelkeit. Sie hatte gerade drei Ibuprofen genommen, von denen sie hoffte, dass sie ihre Kopfschmerzen linderten. Bisher vergebens. In der kurzen Zeit, die sie brauchte, um die hundert Schritte hinüber zu Dr. Ling zu gehen, fiel ihr auf, dass deren erleichterte Miene einem sorgenvollen Blick wich.
Ehe sie fragen konnte, ob mit Maggie alles okay war, hielt die ihre Hände in die Höhe.
»Es sind nur fiese Kopfschmerzen«, sagte sie zu der Ärztin und entschied sich, nichts von der Achterbahnfahrt zu erzählen, die ihr Magen veranstaltete.
»Sie müssen da nicht reingehen.«
Maggie war auch nicht in den vorherigen Gebäuden gewesen. Ling hatte recht. Sie brauchte es sich nicht anzusehen. Aber dieser Brandstifter beschleunigte seinen Takt auf beängstigende Weise. Wenn sie ihn verstehen und herausfinden wollte, wie er zu stoppen war, musste sie sich den Tatort ansehen.
»Ich muss das mit eigenen Augen sehen.«
Dr. Ling sah sie beinahe eine Minute lang stumm an. Dann nickte sie und schritt auf den verkohlten Eingang zu. Bevor sie hineinging, blieb sie stehen, öffnete ihre Tasche und holte zwei weiße Overalls heraus. Einen gab sie Maggie.
»Ich habe immer einen Ersatzanzug mit.«
Ein Feuerwehrmann hatte Maggie bei ihrer Ankunft ein Paar Feuerschutzstiefel gegeben, die sie über ihre flachen Lederschuhe gezogen hatte. Sie fühlten sich wie Clownsschuhe an. Sie stieg wieder aus den Stiefeln, um in den Overall schlüpfen zu können.
Beide Frauen rollten ihre Ärmel und Hosenbeine auf. Maggie faltete ihre Jacke zusammen und steckte sie in die Tasche. Dann schlüpfte sie wieder in die Stiefel, während Dr. Ling sich ihre eigenen Schutzstiefel überstreifte. Lings weitere Ausrüstung bestand aus einer Schutzbrille, die sie sich um den Hals hängte, dünnen Lederhandschu hen und Knieschonern, mit denen sie wie ein Baseballspieler aussah.
Maggie setzte sich eine marineblaue FBI -Baseballmütze auf.
»Bereit?«, fragte Ling.
Im Gebäude stand der ATF -Ermittler Ivan zwischen dem Brandmeister, der ihn um einiges überragte, und Julia Racine. Bei Maggies Anblick zog er das Kinn ein und schüttelte den Kopf, als wäre dies hier allein ihre Schuld. Maggie folgte Lings vorsichtigen Schritten zu dem Schutthaufen, der die
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