Ermittlerpaar Moretti und Roland 02 - Suendenspiel
aufgewühlt?«
An seiner Reaktion sah sie, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.
»Es ist ganz klar, dass du im Moment mehr über deine Vergangenheit nachdenkst«, sagte sie und erntete einen leicht schiefen Blick.
Während sie über das Meer schaute und in der Ferne Land ausmachte, dachte sie über das nach, was Anette gesagt hatte. Die bosnischen Flüchtlinge hätten es gerade jetzt schwer. Wenn das stimmte, traf das wohl auch auf Miroslav zu?
»Wie bist du eigentlich weggekommen, als die Serben Srebrenica belagert hatten?«, fragte sie frei heraus.
Miroslav sah sie nicht an. Sie standen nebeneinander und starrten beide über das Wasser, das unter ihnen aufgepeitscht wurde.
»Du gibst nicht so schnell auf, was?«
Liv rauchte weiter und schnippte die Asche über die Reling.
»Ich dachte nur, es könnte uns vielleicht helfen, den Toten zu verstehen. Vielleicht wirft es ein neues Licht auf den Fall, wenn wir ein paar mehr Details kennen. Ihr habt den gleichen Hintergrund. Seid vor dem gleichen Feind geflohen, aus der gleichen Stadt, im gleichen Krieg. Vielleicht gibt es da Übereinstimmungen, die uns helfen können. Das ist alles.«
Sie sah zu Miroslav, aber er erwiderte ihren Blick nicht. Also fuhr sie fort:
»Anette sagt, dass jetzt die Zeit sei, in der die, die dabei gewesen sind, Probleme bekommen. Dass sie das jetzt landesweit in den Trauma-Zentren erleben. Es fällt mir schwer, das zu verstehen. Aber ich habe es ja auch nicht am eigenen Leib erfahren. Wie soll eine stinkverwöhnte Oberklassengöre wie ich, die in Nordseeland aufgewachsen ist, verstehen können, was es heißt, einen Krieg überlebt zu haben?«
Er drehte sich um und starrte sie lange an, bevor er die Mundwinkel nach oben zog und sie mit einem kleinen, schiefen Lächeln ansah.
»Okay. Du sollst deinen Willen haben.«
Miroslav machte eine lange Pause, während er über das Meer starrte. Liv rauchte und gab ihm die Zeit, die er brauchte.
»Ein guter Freund, der leider auf der Flucht gestorben ist, hat mich vor dem Massaker gewarnt.«
Miroslav schwieg erneut. Es war nicht leicht für ihn.
Liv atmete den Rauch aus, der vom Wind weggeweht wurde. Sie wartete, dass er von alleine fortfuhr.
»Er hat mir einen Weg durch den Wald gezeigt, der um die Absperrungen der Serben herumführte. Über diese Route sind auch andere geflohen«, sagte er schließlich.
»Dann bist du ohne deine Familie geflohen?«
Miroslav warf die Arme in die Luft.
»Ich hatte keine Wahl. Das war die letzte Chance.«
Er seufzte und neigte den Kopf nach unten.
»Und ich habe es nicht mehr geschafft, sie zu warnen.«
Liv schwieg und rauchte ein paar Sekunden lang nachdenklich. Sie hatte Recht gehabt. Sie konnte sich wirklich nicht vorstellen, wie das war. Nicht einmal jetzt, da sie die Details erfuhr. Allein das Schuldgefühl, das er mit sich herumtrug, musste unerträglich sein.
»Und was ist mit deiner Familie passiert?«
Miroslav hob den Kopf wieder und starrte in die Luft. Dann atmete er tief ein und aus. Sein Atem formte eine kleine Nebelwolke.
»Ich habe später erfahren, dass mein Vater erschossen und zusammen mit meinen Brüdern, meinen beiden Onkeln und den anderen, die in der Werkstatt meines Vaters in Srebrenica gearbeitet haben, in einem Massengrab gefunden wurde. Die Leiche meiner Mutter …«
Miroslav schwieg lange.
» … sie wurde vor unserem Elternhaus gefunden. Vergewaltigt und anschließend erschossen«, sagte er dann. »Das ist auf jeden Fall das, was man mir gesagt hat. Ich kann mir gar nicht vorstellen, welche Ängste sie vor ihrem Tod ausgestanden hat.«
Miroslav wendete sein Gesicht ab, so dass sie seine Augen nicht sehen konnte.
Jeder Tag musste für ihn wie ein Kampf sein, dachte Liv. Sie nahm einen letzten Zug und schnipste den Zigarettenstummel ins Wasser. Sie sagte nichts und schaute ihn auch nicht an. Wartete bloß.
»Eine Zeit lang hatte ich geglaubt, meine Schwester habe überlebt. Sie hatte gerade ihre Ausbildung zur Journalistin beendet und war kurz vor der Belagerung der Serben nach Sarajevo gezogen. Noch lange nachdem ich nach Dänemark gekommen war, hatte ich die Hoffnung, sie sei am Leben.«
»Aber das war sie nicht?«
Miroslav schüttelte mit gebeugtem Nacken den Kopf.
»Im Sommer 1999 erhielt ich einen Anruf. Man bat mich, nach Sarajevo zu kommen, um sie zu identifizieren. Ich war an der Stelle, an der sie erschossen worden ist. Ein Klecks roter Farbe und ein großes Loch in den Kacheln markierten die Stelle, an der
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