Ermittlerpaar Moretti und Roland 02 - Suendenspiel
fünf Zivilisten von einer Mörsergranate getötet worden waren, die in der Nähe einer Wasserpumpe eingeschlagen war. Eine davon war meine Schwester. Der Ansicht war man jedenfalls. Die Leiche war in einem Haufen vor der Stadt gefunden worden.«
Liv drehte sich um, so dass sie mit dem Rücken zur Reling stand.
»Das muss heftig für dich gewesen sein«, sagte sie.
Er schaute zu ihr herüber, und ihre Blicke begegneten sich.
»Was mich bei meinem Besuch in meiner früheren Heimat am meisten schockiert hat, war, dass nichts wiederaufgebaut worden ist, obwohl der Krieg seit vier Jahren zu Ende war. Anscheinend hatte auch keiner vor, das zu tun. Keine Wunde war verheilt. Niemand war bereit zu vergeben«, sagte Miroslav.
Es war deutlich zu spüren, dass er das nicht verstand.
»Du bist seither nicht wieder dort gewesen?«
Er schüttelte den Kopf.
Im Universitätskrankenhaus von Odense wurden sie von der Oberärztin Anne Mette Lyngshøj mit einem soliden Händedruck empfangen. Sie führte sie nach oben in die neurologische Abteilung Y, wo sie in das Zimmer eines Mannes Mitte zwanzig gebracht wurden, der in seinem Bett saß. Auf einem Stuhl neben seinem Bett saß eine Frau, die Liv ihrem Äußeren nach spontan für seine Mutter hielt. Am Fußende saß ein kleiner Junge und spielte mit zwei Autos. Der Mann lächelte, als er Liv und Miroslav sah. Er sah gut aus, und läge er nicht hier, würde man nicht meinen, dass er über einen längeren Zeitraum hinweg krank gewesen ist. Auf dem Tisch vor ihm stand ein Strauß frischer, farbenprächtiger Blumen und füllte den Raum mit dem Duft des erwachenden Frühlings, auf den sie alle voller Sehnsucht warteten.
»Das ist Lars. Er hat die Niere von Esad Nuhanovic bekommen«, sagte Doktor Lyngshøj. »Machen Sie es kurz. Die Besuchszeit ist bald vorbei, und Lars braucht Ruhe.«
Liv begrüßte die Mutter, den Jungen und zuletzt Lars, bevor sie sich auf einen grünen Stuhl neben ihn setzte. Der Junge am Fußende des Bettes war vollauf in sein Spiel mit den Autos vertieft, die er andauernd ineinanderkrachen ließ, und sorgte mit dem Mund für die passende Geräuschkulisse.
»Nicht alle haben so viel Glück wie ich«, sagte Lars.
»Mein Vater hatte es nicht. Er starb, als ich klein war.«
»Waren das auch die Nieren?«, fragte Liv während die Geräusche des Jungen lauter wurden und die Großmutter ihn zur Ruhe ermahnte.
»Ja«, sagte Lars. Er machte eine lange Pause, bevor er fortfuhr: »Mein Spender ist im letzten Augenblick aufgetaucht.«
»Das muss eine wahnsinnige Erleichterung gewesen sein«, sagte Miroslav.
»Ich glaube, das kann man sich nur vorstellen, wenn man es selbst erlebt hat. Ich werde nicht nur überleben, ich muss auch nie wieder an die Dialyse. Dreimal die Woche fünf Stunden. Jetzt kann ich mich stattdessen um meinen Sohn kümmern«, sagte er und streichelte dem Jungen mit der einen Hand über das verwuschelte Haar. Der Kleine zog irritiert den Kopf weg.
»Haben Sie den Spender vorher gekannt?«
»Ich habe ihn noch nie zuvor getroffen. Vom Krankenhaus bekam ich nur die Information, dass ein möglicher Spender mit mir sprechen wolle, bevor er seine Entscheidung trifft. Das Krankenhaus hatte bereits geprüft, dass er passen würde. Aber ich durfte seinen Namen anschließend niemandem gegenüber erwähnen.«
»Esad Nuhanovic wollte Anonymität«, unterbrach Doktor Lyngshøj. »Er hat Kontakt zu uns aufgenommen und gesagt, er wolle einem Patienten, der sie dringend bräuchte und noch eine Chance verdiente, eine Niere spenden.«
Liv stutzte.
»Was meinte er mit ›noch eine Chance verdiente‹?«, fragte sie, aber Doktor Lyngshøj schüttelte den Kopf.
»Ich habe ihn nicht gefragt. Wir sind immer außerordentlich dankbar, wenn sich jemand entscheidet zu spenden. Das rettet das Leben eines anderen Menschen.«
»Aber was haben Sie zu ihm gesagt?«, fragte Liv. »Ist das nicht eine recht ungewöhnliche Anfrage? Gibt es nicht eine Warteliste?«
»Ich habe ihm natürlich gesagt, dass das nicht die normale Vorgehensweise ist, wenn aber jemand speziell für eine bestimmte Person spenden will, kann man die Warteliste umgehen.«
»Aber Sie haben ihn zwischen mehreren Patienten wählen lassen?«
Die Ärztin räusperte sich. Sie schien nicht stolz auf die Geschichte zu sein.
»Ja, ich hatte natürlich meine ethischen Skrupel, das ist klar … das war nicht ganz nach Vorschrift, sie waren weder miteinander verwandt noch bekannt, aber wir sind doch auch hier,
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