Ermittlerpaar Moretti und Roland 02 - Suendenspiel
schob den Unterkiefer vor.
Sie saßen eine Weile schweigend da und dachten an Doktor Andersen. Schließlich konnten sie ihn nicht festhalten, weil er zu oft auf seine Armbanduhr geschaut oder zugegeben hatte, den Einbruch auf einen Computer bestellt zu haben. Das war zwar strafbar, machte ihn aber nicht zu einem Mörder. Und warum er das getan hatte, bekamen sie wohl kaum aus ihm heraus. Wer konnte sonst noch etwas wissen? Safet? Gab es eine Verbindung zu ihrer Vergangenheit und der Flucht aus dem ehemaligen Jugoslawien?
»Es gibt da etwas, über das ich nachgedacht habe«, unterbrach Liv ihre Gedanken.
Anette drehte sich abwartend in ihre Richtung.
»Und das wäre?«
»Safet. Er macht mir Sorgen.«
»Warum?«
»Als ich mit Marie Bergman, ihrer Haushaltshilfe oder wie man so etwas heutzutage nennt, gesprochen habe, sagte sie, dass es dem Jungen nicht gut geht. Dass er eine große Last aus dem Krieg mit sich herumträgt. Seine Mutter fehlt ihm.«
Anette nickte.
»Das kann gut eine Form von posttraumatischem Stress auslösen«, sagte sie und nickte. »Passt aber sehr gut zu dem, was uns Doktor Andersen heute erzählt hat.«
Liv rollte eine unbenutzte Zigarette zwischen den Händen und steckte sie dann hinter ihr rechtes Ohr.
»Er sagt aber selbst, dass er sich an nichts erinnern kann.«
»Vielleicht tut er das, um nicht darüber sprechen zu müssen.«
Liv nickte und schwieg.
»Es kann auch sein, dass er sich wirklich an nichts Konkretes erinnert«, fuhr Anette fort, »aber die Angst hat dennoch ihre Spuren in ihm hinterlassen, und auch wenn sie jetzt in Dänemark wohnen, muss er jeden Tag damit leben. Dank der Angst des Vaters.«
»Wie das?«, fragte Roland.
»Für Menschen wie seinen Vater endet so ein Krieg nie. Sie haben ihn immer im Kopf, sind unsicher und schauen sich ständig über die Schulter. Kinder lernen so etwas. Und vielleicht ist es für Safet noch schlimmer, weil er nicht weiß, wovor er sich eigentlich fürchten soll.«
»Weil die Fantasie dann freies Spiel hat«, stellte Liv fest.
Anette nickte zur Bestätigung.
»Ist er selbstmordgefährdet?«, fragte Liv.
»Das sind die meisten Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung«, Anette schwieg nachdenklich, bevor sie fortfuhr: »In der Tat sieht man derzeit landesweit in den Behandlungszentren für Opfer von Folter und Traumata einen enormen Anstieg der Patientenzahlen, eine große Gruppe davon bilden die bosnischen Flüchtlinge, die als stark selbstmordgefährdet gelten.«
»Aber der Krieg ist doch schon lange zu Ende?«, sagte Roland total verblüfft. »Wie lange? Fünfzehn Jahre?«
»Ja, und jetzt tauchen sie auf«, fuhr Anette fort.
»Das kann ich nicht nachvollziehen«, sagte Roland.
Anette seufzte nachsichtig.
»Nach vielen Jahren mit einem normalen Alltag in Dänemark hat die große, gut integrierte Gruppe begonnen auseinanderzubrechen. Viele bosnische Flüchtlinge waren lange Zeit unter kümmerlichen Verhältnissen in Gefangenenlagern eingesperrt. Andere haben sich, aus Angst getötet zu werden, vier, fünf Monate lang in irgendwelchen Wäldern versteckt. Und wieder andere mussten mit ansehen, wie ihre Familien ermordet wurden. Den meisten bosnischen Flüchtlingen ist es trotzdem gelungen, sich zu integrieren, aber nach zehn, fünfzehn Jahren bricht ihre Welt zusammen, weil sie keine Kräfte mehr übrig haben. Sie haben sich mit knapper Not an einen Alltag geklammert, der für eine Zeit lang funktioniert hat. Das ist kein speziell bosnisches Phänomen. Das ist ein generelles Phänomen. 15 bis 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sind Polizisten und dänische Gefangene aus den Konzentrationslagern auch zusammengebrochen.«
»Interessant«, brummte Roland und verließ sie, um einen Anruf entgegenzunehmen. Es war der Wachhabende. Am Empfang wartete ein Stapel Akten auf ihn.
Auf dem Weg dorthin dachte er daran, dass er immer noch nicht wusste, ob es einen Zusammenhang zwischen der Vergangenheit der Familie Nuhanovic und dem Tod des Vaters gab, trotzdem glaubte er fest daran, dass irgendwo in ihrer Geschichte die Erklärung dafür lag, warum Esad Nuhanovic sterben musste. Und, dass sie die finden mussten. Seine Gedanken kreisten immer noch um Safet und um all das, was die aktuellen Geschehnisse in ihm wachrütteln konnten. Ungeachtet, ob es um etwas ging, was er selbst oder was nur sein Vater erlebt hatte, war es unumgänglich, dass der Tod des Vaters etwas in ihm auslöste. Er sagte es nicht laut, hoffte aber in
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