Erntedank
gut fünfundzwanzig Jahren noch, die er sich als Werkstattmeister bereits um den Fuhrpark der PD Kempten kümmerte. Meggle, eigentlich immer gut gelaunt, war gerade mit seiner Brotzeit und der Lektüre einer Boulevardzeitung beschäftigt, als Kluftinger eintrat.
»Ja jetzat! Welch Glanz in meiner bescheidenen Hütte! Griaß di!« Meggle legte seine Wurstsemmel beiseite, fuhr sich mit der rechten Hand durch das Haar, das dem Mittfünfziger schon vor fünfzehn Jahren ergraut war, aber noch immer mit fülliger Lockenpracht glänzte.
»Was kann ich gegen dich tun?«
»Ich bräucht’ einen Dienstwagen«, antwortete Kluftinger. Er hätte es nicht zugegeben, aber der Gestank in seinem Auto nahm Ausmaße an, die er nur noch schwer ertragen konnte.
»Und?«, grinste Meggle ihn an, der nicht zu verstehen schien.
»Ihr habt doch einen Haufen, bei der Kripo.«
»Nein, draußen steht keiner mehr.«
Meggle lachte kehlig und ging zu einem kleinen, in der Wand eingelassenen Tresor, in dem sich die Zweitschlüssel befanden. Wenn Not am Mann war, trieb er immer noch ein Auto auf. »Warte mal … die Ludmilla wäscht gerade einen. Die müsste so weit fertig sein. Den kannst du nehmen – Schlüssel steckt.«
Kluftinger bedankte sich und verabschiedete sich von Meggle, der ihm noch grinsend hinterher rief: »Und vorsichtig einparken, Klufti!«
***
Vor der barocken Kemptener Residenz angekommen, diesem prächtigen, in Gelb und Weiß strahlenden ehemaligen Sitz der Fürstäbte der Stiftsstadt Kempten, steuerte Kluftinger den Streifenwagen zielsicher direkt vor den Eingang zum Land- und Amtsgericht Kempten, die hier ihren Sitz hatten. Beim Blick auf die Verkehrsschilder »Fußgängerzone, absolutes Halteverbot, ausgenommen Einsatzfahrzeuge der Polizei« lächelte er zufrieden.
An der Pforte wies man ihm den Weg in den zweiten Stock zum Zimmer von Dr. Möbius. Er ging durch die Vorhalle und sein Blick fiel auf die riesige Malerei, die die Stadt für eine Weile in helle Aufregung versetzt hatte:
Ein Westallgäuer Künstler hatte in den neunziger Jahren den Auftrag erhalten, die Geschichte der fürstäbtlichen Residenz und des Stifts Kempten auf der großen Wand im Eingangsbereich darzustellen. Allerdings hatte er andere Vorstellungen davon gehabt als die staatlichen Auftraggeber: Die offizielle Seite hätte gern ein beschönigendes Bild der kulturell herausragenden Fürstabtei gesehen, der Künstler hatte hingegen ein allegorisch-derbes Spektrum ihrer Schattenseiten und ihres Niedergangs gemalt. Die Kulturseiten der Presse waren einige Wochen voll gewesen mit der Diskussion über das Bild, das, so die offizielle Seite, angeblich auch von einem Großteil der Bürger abgelehnt worden sei. Kluftinger hatte die Diskussion damals verfolgt und seine Kenntnisse waren erst im Sommer im Rahmen einer Residenzführung aufgefrischt worden.
Jedes Mal, wenn er nun daran vorbei ging, kam er sich ausgesprochen kunstverständig vor. Grinsend warf er einen Blick auf die umstrittenste Figur im Gemälde: Die »Papsthure« mit entblößtem Oberkörper, die auf einer Sau ritt. Allzu fromme Bürger hatten die Farbe von den Brüsten abgekratzt – ein Ausdruck höchster Beschränktheit, wie Kluftinger fand. Seit dem Jahr 1775, als im Bereich des Stifts Kempten das letzte Todesurteil in einem Hexenprozess in Deutschland gefällt worden war, schien sich die Engstirnigkeit mancher kaum zum Besseren gewandelt zu haben. Bisweilen trieb hier allzu große Angst vor Neuem und Unbekanntem noch immer seltsame Blüten.
Mit einem Kopfschütteln stieg er die Treppe hinauf, vorbei am lateinischen Spruch am rechten Rand des Gemäldes, dessen Übersetzung er sich seit der Führung gemerkt hatte: »Campidonia sola judicat ense et stola. Fiat justitia. Einzig Kempten richtet mit Schwert und Stola. Es werde Gerechtigkeit.«
Mit dem Schwert der Scharfrichter und den Stolen der kirchlichen Herrscher war es zum Glück vorbei – an ihre Stelle waren Haftstrafen und Richterroben getreten. Aber noch immer versuchte man hier im Gerichtsgebäude, dem herrschenden Verständnis von Gerechtigkeit und Sühne nachzukommen, auch wenn die sich im Laufe der Jahrhunderte erheblich gewandelt hatten.
***
Kluftinger klopfte zaghaft an die Türe mit der Nummer 202 und öffnete nach einem etwas zu exaltierten »Herein« den Eingang zum Büro des Staatsanwalts. Schon auf den ersten Blick wirkte der Raum, trotz derselben schlichten Büromöbel, die wohl in allen Amtsstuben
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