Erntedank
standen, edler, gediegener und gepflegter als die anderen Räume, die er hier kannte. Das lag allerdings nicht nur an der hohen, mit Stuck verzierten Zimmerdecke, dem uralten, runden Kachelofen in der Ecke und dem hohen Fenster als vielmehr an dem, der hier arbeitete. Der hatte offenbar Sinn für Ästhetik und ausgeprägten Ordnungssinn. Während in den Büros der Richter und Staatsanwälte sonst Schreibtisch, Ablagetische und bisweilen sogar der Boden mit Aktenstapeln bedeckt waren, lagen bei Dr. Möbius lediglich vier Ordner auf dem Tisch. Alles schien aufgeräumt, hell und übersichtlich. Leise, klassische Musik drang aus einer kleinen Stereoanlage. Eine moderne, gläserne Teekanne wurde von einem Teelicht golden beleuchtet. Auf einem Tischchen an der Seite stand ein Zimmerbrunnen, der unaufhörlich vor sich hin plätscherte. »Herr Kluftinger, grüße Sie!«
Dr. Möbius stand auf und kam dem Kommissar entgegen. Wie immer war er überaus adrett gekleidet: Zum makellosen Anzug – schwarz mit grauen Blockstreifen – trug er ein fliederfarbenes Hemd, darauf eine spiegelnd glänzende, Ton in Ton mit dem Hemd gehaltene Krawatte. Die Farbwahl sprach eindeutig für die Vermutung der Kollegen, dachte Kluftinger. Und erst dieser geschmeidige Gang, dieser weiche Händedruck …
»Herr Dr. Möbius, schön, dass Sie gleich Zeit hatten«, begann Kluftinger.
»Für meine Männer von der Polizei habe ich doch immer Zeit.«
Möbius hatte dies mit einem Lächeln gesagt, das seine strahlend weißen Vorderzähne völlig freilegte.
»Für meine Männer« hatte er gesagt. Aha, für Frauen wohl nicht? Das konnte ja heiter werden. Kluftinger sah Möbius beiläufig dabei zu, wie er sich wieder zu seinem Stuhl begab. Dabei fiel sein Blick, zufällig nur und lediglich für den Bruchteil einer Sekunde, auf Möbius’ Hintern: Nicht schlecht für sein Alter – laut seinen Kollegen achtundvierzig – dachte der Kommissar anerkennend und erstarrte sofort wegen dieses Gedankens. Entsetzen und Scham ließen sein Gesicht knallrot anlaufen. Um Gottes Willen! Er war schockiert, dass ihm dieses Detail überhaupt aufgefallen war …
Ihm ging das Geschwätz der anderen Kollegen einfach nicht mehr aus dem Kopf. Sollte Möbius wirklich … ? Und wie sollte er ihm dann unterschwellig klar machen, dass er bei ihm gar nichts zu versuchen brauchte?
Er konnte sich kaum noch auf den Inhalt des Gespräches konzentrieren, das sich um den Fortschritt der Ermittlungen drehte. Dabei eröffnete ihm der Staatsanwalt, dass nach Maiers Missgeschick Presseauskünfte in Zukunft über ihn zu laufen hätten. Aus jedem von Möbius’ Sätzen glaubte er eine ungewöhnliche Sanftheit herauszuhören, in seinen Bewegungen lag eine geradezu feminine Elastizität.
Kluftinger war das alles schon nach kurzer Zeit zu viel, er wollte hier raus. Die sexuellen Vorlieben seiner Mitmenschen waren ihm zwar egal – ein Punkt, in dem er sich eigentlich sehr tolerant fand. »D’Katz frisst d’Mäus’, aber i mag’s it« sagte er für gewöhnlich, wenn es um dieses Thema ging. Aber jetzt hatten die Kollegen so blöd dahergeredet …
»Wegen der Akten, haben Sie die schon besorgen lassen?«, fragte Kluftinger Dr. Möbius schließlich, um das Gespräch zu beenden.
»Die liegen bereits an der Pforte für Sie bereit. Es ist übrigens ein beträchtlicher Stapel. Vielleicht lassen Sie sich von einem der starken Herren unten an der Pforte helfen.«
Jetzt reichte es wirklich. Schon wieder die »starken Herren«. Und er wusste einfach nicht, wie man sich »so jemandem« gegenüber unbefangen benehmen sollte. Er reichte dem Juristen die Hand zum Abschied und zu seiner Freude bekam er lediglich einen weichen Händedruck und keinen Handkuss. Nachdem er den Raum verlassen hatte, durchmaß er eilig den langen Korridor. Er hatte es eilig, denn das ständige Gluckern des Zimmerbrunnens hatte dafür gesorgt, dass er dringend auf die Toilette musste. Er stand bereits am Urinal und wartete auf das erlösende Plätschern, als die Tür hinter ihm aufging. Er drehte den Kopf und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen: Dr. Möbius betrat ebenfalls die Toilette. Er spürte, wie ihm heiß wurde. War er ihm etwa nachgegangen? Was, wenn er am Becken nebenan … ? Was, wenn er herüberschauen … ?
»Hoi, so trifft man sich … «, versetzte er nervös.
»Allerdings«, erwiderte der Staatsanwalt mit einem Lächeln. Einem irgendwie geheimnisvollen und doch vielsagenden
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