Erntedank
den Arm und wartete, bis Maier ihm das Kleidungsstück abnahm, um es zuerst auf einen Bügel und dann an einen Kleiderhaken zu hängen. Darunter kam ein ebenso schwarzer, perfekt sitzender Anzug zum Vorschein, unter dem der Richter einen schwarzen Rollkragenpullover trug. Das Schwarz im Kontrast zu dem braunen Gesicht des schlanken Mannes und den weißen Haaren, deren Farbe sich in den Augenbrauen fortsetzte, verlieh ihm eine kultivierte Aura. Vielleicht war es auch seine betont aufrechte Haltung, verbunden mit der Tatsache, dass er kaum je lächelte. Nur die ausgeprägten Tränensäcke wollten nicht so recht zu der ansonsten sportlich-eleganten Erscheinung passen.
Nachdem Hartmann Platz genommen hatte, strich er sich seine Bundfaltenhose glatt, schlug seine Beine übereinander und öffnete mit einem geübten Griff sein Sakko. Anschließend sah er sich mit leicht hängenden Mundwinkeln im Zimmer um.
»Erst einmal vielen Dank, Herr Richter, dass Sie sich die Zeit genommen haben, heute hierher zu kommen«, eröffnete Kluftinger das Gespräch und ärgerte sich sofort darüber, dass er den Mann vor ihm »Richter« genannt hatte, wo dieser doch schon längst aus dem Staatsdienst ausgeschieden war. Hartmann hingegen schien die Bezeichnung als durchaus gerechtfertigt zu empfinden und nickte dem Kommissar mit leicht zur Seite geneigtem Kopf wohlwollend zu.
»Wie gesagt, vielen Dank noch mal«, wiederholte Kluftinger unsicher, weil er sich die ganze Zeit schon überlegte, wie er die erste Frage formulieren sollte. Die strenge Ausstrahlung des Richters bewirkte eine gewisse Anspannung beim Kommissar. »Ich nehme an, meine Kollegen haben Sie bereits informiert, worum es geht«, sagte er schließlich.
»Nein, zu meinem Leidwesen weiß ich nicht, was der Anlass meines Besuches hier ist«, erwiderte der Richter und klang dabei etwas indigniert.
Kluftinger warf Maier und Hefele einen scharfen Blick zu, was die mit einem entschuldigenden Achselzucken quittierten.
»Ach so … dann … nun, es … es ist Folgendes … «
»Wenn Sie bitte zur Sache kommen würden? Wie schon erwähnt: Ich habe wenig Zeit.«
»Dann lassen Sie es mich kurz machen: Sie hatten in zwei Fällen mit Prozessen zu tun, die uns seit Kurzem beschäftigen. Sie haben vielleicht davon in der Zeitung gelesen: Es handelt sich um … «
»Ich lese selten Zeitung. Jedenfalls nicht die lokale Presse. Aber bitte, fahren Sie fort.«
Kluftinger brachte die erneute Unterbrechung kurzzeitig aus dem Konzept. Er musste einen Moment nachdenken, um den Faden wieder aufzunehmen.
»Wie auch immer: Es handelt sich um eine gewisse Michaela Heiligenfeld und einen Gernot Sutter. Sind Ihnen die Namen noch ein Begriff?«
Ohne nachzudenken antwortete Hartmann: »Frau Heiligenfeld war die Abtreibungsärztin. Ich habe den Fall als Staatsanwalt betreut. Beim Namen Sutter muss ich leider passen. Wer war das?«
»Sie waren Richter, als der Fall verhandelt wurde. Er stand wegen Betruges vor Gericht: Kaffeefahrten und dergleichen.«
»Ah ja, ich entsinne mich. Freispruch, wenn ich mich nicht irre?«
Kluftinger nickte.
»Nun, wie kann ich Ihnen bei Ihren Fällen helfen?«
»Es wird Sie vielleicht erschrecken, aber beide sind ermordet worden.«
Im Gesicht des Richters war keine Regung zu erkennen.
»Nun, jedenfalls ist die einzige Gemeinsamkeit, die wir bisher entdeckt haben, jedenfalls die einzig relevante«, bei diesen Worten blickte er kurz zu Maier, der schuldbewusst den Kopf senkte, »dass sie beide vor Gericht standen. Wir wollen versuchen, hier anzusetzen, um etwas über ein mögliches Motiv herauszufinden.«
»Ihren Worten entnehme ich, dass Sie einen Zusammenhang vermuten, aber noch keinen gefunden haben. Nun, Ihr Vorgehen scheint dennoch klug. Ich werde Ihnen gerne alles erzählen, was ich weiß, auch wenn Sie sicher die Akten zu den Fällen vorliegen haben.«
»Vielen Dank. Natürlich liegen uns die Unterlagen vor. Vielleicht gehen wir die Fälle einfach der Reihe nach durch. Frau Heiligenfeld … «
»Ich erinnere mich natürlich sehr gut daran. Der Fall hat damals ja auch in den Medien für großes Aufsehen gesorgt. Wir sind durch einen Tipp auf die Ärztin aufmerksam geworden, die unerlaubte Abtreibungen vornahm. Ich will das nicht moralisch bewerten; die Rechtslage war aber eindeutig. Wir haben Anklage erhoben. Nun ja, wie Sie wissen, waren wir nur zum Teil erfolgreich. Frau Dr. Heiligenfeld wurde die Approbation entzogen, allerdings reichte es
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