Erntedank
ihrem Besuch beim Erkennungsdienst besorgt hatten.
»Bist du sicher?«, erkundigte sich Strobl.
»Der gleiche Umschlag. Kein Absender. Maschinenschrift. Außerdem hab ich einen Blick hinein riskiert. Die ersten Zeilen sind die gleichen.«
Die Sekretärin schien erleichtert, als die Polizisten sich wieder verabschiedeten.
»Wenn Sie noch etwas brauchen, melden Sie sich doch«, gab sie ihnen ungewohnt zuvorkommend mit auf den Weg nach draußen.
Als sie die Tür geschlossen hatten, sagte Kluftinger zu seinem Kollegen: »Gib doch Hoffmann und Berners, weißt schon, vom Dezernat Wirtschaftskriminalität, Bescheid, dass sie sich den Laden hier mal vorknöpfen. Ich bin sicher, die werden hier fündig. Und ich würde zu gerne sehen, wie sie dieser Vogelscheuche ein bisschen auf die Füße treten.«
Auf der kurzen Fahrt zurück in die Direktion konnte Kluftinger es nicht erwarten und packte den Brief, diesmal mit Handschuhen, ganz aus.
»Und? Wie beim anderen?«, fragte Strobl, der vom Fahrersitz immer nur einen kurzen Blick auf das Stück Papier werfen konnte.
»Nicht ganz, Eugen. Nicht ganz«, antwortete Kluftinger und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Die Zeichen sind auch wieder drauf. Aber auf dem hier befinden sich zwei Strophen des Gedichtes.«
***
Missmutig zog Kluftinger die Wohnungstür hinter sich zu. Er wäre lieber im Büro geblieben, aber seine Anwesenheit war nicht mehr unbedingt vonnöten gewesen, so dass seine Kollegen ihn gedrängt hatten, endlich nach Hause zu gehen, damit er seinen wichtigen Termin nicht verpasse.
Erika wartete bereits vor der Haustüre, weil er noch einmal hinaufgegangen war, um seinen Trommelschlegel zu holen. Grantig stapfte er in Lederhosen und Kniestrümpfen die Treppe hinunter, über dem Leinenhemd spannte sich die weinrote Weste mit den Messingknöpfen.
»Hast du jetzt alles? Schaust wirklich schneidig aus in Tracht«, schmeichelte Erika ihrem Mann vor dem Haus. Sie wusste, dass er die Großtrommel in der Blaskapelle ungern schlug – und das lag auch an der Kleidung, die bei jedem Auftritt Pflicht war. Heute, am Samstag vor dem Erntedankfest, stand wie jedes Jahr ein Platzkonzert vor dem Altusrieder Rathaus auf dem Programm: Der »Alternative Markt« wurde eröffnet, ein Spektakel, zu dem sich alljährlich mehr Besucher einfanden als die Gemeinde Einwohner hatte.
Doch es war nicht nur der bevorstehende Auftritt, der dem Kommissar im Magen lag.
»Müssen wir unbedingt da die Kartoffeln und das Kraut kaufen?«, jammerte er und dachte mit einem mulmigen Gefühl an die hundertdreiundzwanzig Euro und achtundachtzig Cent, die sie letztes Jahr in Bio-Gemüse »investiert« hatten, wie er danach gemeckert hatte, denn kaufen konnte man das bei dieser Summe wirklich nicht mehr nennen. Die Antwort kannte er bereits. »Ja, mein Lieber. Die schmecken besser und sind viel gesünder.«
»Komisch. Ich krieg von den Preisen immer Sodbrennen«, brummte er, als sie hinter der Kirche die Marktstände erreicht hatten. Das Erste, was er sah, war ein nicht enden wollender Strom von Menschen, die sich über die sonst so ruhige Straße schoben. Wie Heuschrecken fielen sie jedes Jahr hier ein, dachte er verächtlich. Dann bemerkte er die Auslage des ersten Stands: Neben indianischen Traumfängern und glasierten Tonkugeln wurden dort auch die Salzkristalllampen angeboten, die ihn in letzter Zeit geradezu zu verfolgen schienen. Daneben lagen auf einem Tapeziertisch grobe Schafwollpullover neben Socken und Wollknäueln in den verschiedensten Größen.
»Ui, schau, da kaufen wir dir ein Paar, dann muss ich die alten nicht mehr stopfen«, rief Erika vergnügt und beschleunigte ihren Schritt.
Kluftinger warf einen misstrauischen Blick auf die Strümpfe: Es gab sie in einem schmutzigen Weiß und erdigem Braun – Farbe war an diesem Stand offenbar verpönt. Schon beim Anblick spürte er das furchtbare Kratzen des groben Stoffes. Auch für den ausgewiesenen Wollsocken-Fan war das eine Spur zu viel.
»Was kostet denn da ein Paar?«, fragte Erika und löste damit einen längeren Vortrag über die Vorteile unbehandelter Bio-Schafwolle aus. Kluftinger wusste aus leidvoller Erfahrung: Je länger der Vortrag, desto teurer das Produkt. Der Referent war ein etwa vierzigjähriger Mann, dessen schütteres, blondes Haar in langen Strähnen auf seine Schulter hing. Er trug einen Norwegerpullover, der bereits ziemlich ausgeleiert war. Die Schafwolle sei völlig naturbelassen und mit einer
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