Erntedank
Auto vorbei nach vorn. Kluftinger und Strobl folgten ihm. Auch wenn Renn sagte, dass es sich bei der nun folgenden Rekonstruktion dessen, was sich vermutlich vorletzte Nacht hier abgespielt hatte, nur um seine Meinung handelte, waren sich die beiden sicher, eine detaillierte Darstellung der tatsächlichen Vorgänge zu erhalten. Die beiden kannten ihn und hatten Respekt vor seiner Fachkompetenz; seine schnellen Tatortanalysen waren legendär.
»Euer Mann … also der … «
»Sutter«, ergänzte Strobl.
» … danke. Also euer Sutter ist hier langgefahren, vorgestern Nacht wohl, wenn ich das richtig mitbekommen habe. Er fährt die Straße entlang und plötzlich kracht es gewaltig. Die Windschutzscheibe zerspringt, noch bevor er irgendwas erkennen kann. Vielleicht denkt er, es sei ein Reh oder ein Vogel gewesen. Er ist geschockt und weiterfahren kann er mit der Scheibe eh nicht. Also steigt er aus.«
Renn ging ein paar Schritte weiter und trat auf den schmalen Grasstreifen zwischen der Straße und der ersten Baumreihe.
»Er läuft hierher um zu sehen, was seinen schönen Siebener da so zugerichtet hat und findet das hier.« Renn zeigte auf einen runden Stein von etwa zwanzig Zentimetern Durchmesser, der neben der Fahrbahn lag. Kluftinger kam etwas näher, um ihn sich genauer anzusehen. Dann sah er das Blut. Viel Blut. Sofort wich er wieder einen Schritt zurück.
Renn grinste. »Ja, das war dann vermutlich auch das Letzte, was euer Sutter gesehen hat.«
Kluftinger wusste nicht, warum Renn das Opfer immer mit »euer Sutter« bezeichnete. Er wollte den Redefluss des Kollegen allerdings nicht bremsen und verkniff sich eine Frage.
»Er sieht also den Stein und dann – ratsch. Und das war’s.«
»Wie: ratsch?«, fragte Strobl.
»Na, irgendjemand hat ihm doch die Kehle aufgeschlitzt, oder? Und das war genau hier, das sieht ja ein Blinder mit Krückstock.«
Renn hatte Recht. Die Erde war auf einem guten Quadratmeter getränkt von dunkelrotem, eingetrocknetem Blut. Auch auf die Straße war etwas gesickert. Auf dem Fleck tummelten sich noch ein paar Fliegen. Kluftinger schüttelte es. Die Eindrücke der letzten beiden Tage gingen ganz entschieden über das hinaus, was er zu ertragen im Stande war. Bei ihm, der, seit er Leiter des Kommissariats geworden war, so gut wie nie mehr zu den so genannten »Polizeileichen« ging, den Verstorbenen, bei denen eine unnatürliche Todesursache nicht ausgeschlossen werden konnte und die deswegen die Kriminalpolizei zu untersuchen hatte, war nie ein Gewöhnungseffekt an Tote eingetreten.
»Der Mörder oder die Mörderin hat ihm das Ding ins Fenster geworfen, weil er oder sie wollte, dass euer Sutter anhält«, lenkte Renn seine Gedanken wieder auf den aktuellen Fall. »Und an den Kopf hat er es auch noch gekriegt.«
Kluftinger dachte an die Platzwunde, die er an der Leiche gesehen hatte.
Und noch etwas war ihm aufgefallen. Renn hatte gesagt: »Der Mörder oder die Mörderin.« Er wunderte sich darüber; meist sprachen er und seine Kollegen nur von dem Mörder oder dem Täter. Die weibliche Form wurde nur selten verwendet. Vielleicht, weil 90 Prozent aller Gewaltverbrechen von Männern begangen wurden, auch wenn der Anteil der Frauen zunahm. Aber eigentlich hatten sie sich mit dieser Formulierung geistig schon immer auf einen männlichen Täter eingeschossen.
»Übrigens, da hab ich doch was für euch. Ich will mal nicht so sein. Hier, an dem Stein hab ich eine Faser gefunden, die schätzungsweise von einer Jacke oder einem Mantel stammt. Könnte sich später noch als hilfreich herausstellen.«
Kluftinger nickte anerkennend. Er wunderte sich jedes Mal, was für Kleinigkeiten die Kollegen vom Erkennungsdienst immer wieder entdeckten. Und oft waren es eben diese Kleinigkeiten, die zur Lösung des Falles führten. Eigentlich fast immer, musste er sich bei genauerem Nachdenken eingestehen. Eine scharfe Kombinationsgabe war zwar nicht von Nachteil, aber tatsächlich wurden die meisten Fälle aufgrund akribischer Recherche- und Untersuchungsarbeit gelöst. Die vielen Kisten mit Asservaten, mit meterweise Tesafilm, auf dem die Fasern oder Fingerabdrücke gesichert wurden, waren aus dem Polizeialltag nicht mehr wegzudenken. Genauso wenig wie die Computer-Datenbanken. Das war meilenweit entfernt von der Krimiromantik, die im Fernsehen oft verbreitet wurde.
»Ich hab das alles schon zum Asservieren eingepackt«, riss ihn Renn aus seinen Gedanken. »Ach ja, das Beste habt ihr ja
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